Sonntag, 12. Juni 2016

Von Fußball und Fischen und von Gandhi

„Top of the list“ für Millionen Menschen ist derzeit die Fußballeuropameisterschaft. Ununterbrochene Medienberichterstattung, Fan-Schals, Nationalmannschaftstrikots, Tippspiele und Public Viewing lenken den Fokus für die nächsten Wochen zu großen Teilen auf das runde Leder. Gemeinsam mit allen teilnehmenden Nationen feiern wir ein (hoffentlich) friedliches, großartiges, europäisches Fußballfest. Nicht viel scheint neben diesem allesbeherrschenden Thema zu existieren. Nur ganz wenige Ereignisse dringen derart tief in unser Bewusstsein.

Parallel geschehen die „üblichen“ Dinge, die zu EM-Freien Zeiten die Blätter im Medienwald bewegen: Weiterhin strömen Flüchtlinge ins Land, die Handelsabkommen TTiP und CETA werden vorangetrieben, Glyphosat wird versprüht, Gletscher schmelzen, in Syrien und in anderen Ländern sterben Menschen durch Hunger und Gewalt, China versinkt noch tiefer im Schmutz, der Planet ächzt unter einer explosionsartig wachsenden Bevölkerung, die Einkommensschere öffnet sich weiter, ... nichts Neues eben. All das passiert immer noch, nur wird es wegen der Begeisterung für das Spiel der Spiele viel weniger wahrgenommen. Obwohl es bei all diesen Themen um uns geht, um unser derzeitiges Leben und das derer, die nach uns kommen. Kurz gesagt, um die Zukunft des Planeten. Klingt bombastisch, oder? Vielleicht ist genau das der Grund, weshalb die breite Masse diese Dinge nicht fassen kann. Diese Probleme sind zu groß, zu viel, zu komplex und dadurch unverständlich. Wie einfach ist doch da Fußball, sieht man von der Abseitsregel einmal ab.  Es ist leicht für eine so simple, und obendrein noch spannende Sache Begeisterung zu entwickeln.

Viel schwieriger ist es da schon, sich für den Kampf gegen Rassismus oder die Herstellung genmanipulierter Nahrung zu begeistern oder für die Einführung weltweiter Umweltstandards. All das ist weit weg von jedem Einzelnen und schließlich haben wir dafür doch auch Politiker, die wir als Kümmerer gewählt haben. Und außerdem, wer weiß, ob das alles stimmt?!? Bei den Flüchtlingen ist das anders. Die sehen wir, die sind da und könnten uns ja etwas wegnehmen vom Kuchen. Da gehen wir schon mal auf die Straße. Ein bisschen zumindest. Vielleicht setzen wir aber auch hier einfach auf diejenigen Politiker, die versprechen, kurzen Prozess mit dem Pack zu machen. Rausschmeißen! Grenzen dicht! Fertig! Dann brauchen wir nicht zu solch anstrengenden Demonstrationen. Herr Höcke wird‘s schon richten. Sarkasmus aus ...

Die Wahrheit ist, dass in den letzten Jahren in sämtlichen westlichen Ländern vom Volk nur wenige Aktivitäten ausgingen, die auf die großen Probleme der Welt eingingen. Tut es mal jemand, wird er als „Gutmensch“ verspottet. Irgendwie verstehe ich das ja. Schließlich ist es wirklich schwer, für die Verbesserung der Welt einen ähnlichen Einsatz zu zeigen, wie für die Fußballeuropameisterschaft. Es gab noch kein Zukunftsthema, welches eine Million Demonstranten auf die Straße des 17. Juni gelockt hätte. Fußball kann das.

Aber es gibt auch andere Beispiele. Denn auch heute sind Menschen unterwegs, die nicht primär an ihr persönliches Wohlergehen denken, sondern die Welt verbessern wollen. Überall in der Welt geschahen und geschehen nämlich Veränderungen. Derzeit nimmt man sie zwar nur als leichte Brise wahr, zumindest wenn man sie mit dem Sturm der Fußball-EM vergleicht, aber die Stimmen derjenigen werden lauter und mitunter weltweit wahrnehmbar. Jüngstes Beispiel ist die Wahlkampagne von Bernie Sanders in den Vereinigten Staaten. Er ist ein Präsidentschaftskandidat, der sich selbst als Sozialist bezeichnet. Auf bisher ungesehene Weise prangert er die Macht der Banken und der Industrie an. Unsere Sozialdemokraten sollten sich eine dicke Scheibe abschneiden. Im Rennen um das Weiße Haus ist er kürzlich leider ausgeschieden. Was sein Wahlkampf aber hinterlässt, ist die Erkenntnis, dass sogar in der Leuchtturmnation des Kapitalismus die Luft dünner wird für Konzerne, ihre Lobbyisten und die Gewinnmaximierung auf Kosten der Menschheit. In seinen Reden adressierte Sanders unzählige Male „gute“ Themen wie Gerechtigkeit, Frieden oder Umwelt. Sein größter Erfolg: Eine überwältigende Mehrheit junger Amerikaner folgt ihm und seinen Ideen. So etwas macht Hoffnung für die Zukunft. Derlei Beispiele gibt es viele. Sie geschehen überall auf der Welt.

Als ich darüber nachdachte, fiel mir ein Tauchgang im Roten Meer ein. Ich erinnerte mich an einen Fischschwarm, der wie ein silbrig glänzender Organismus vor mir im Wasser schwebte. Wer so etwas schon mal gesehen hat, wird ebenso fasziniert gewesen sein, wie ich es war. So schnell sich die Tiere bewegten, blieben sie doch zusammen wie ein einziges riesiges Wesen. Nur ab und an stachen naseweise Neugierlinge kurz daraus hervor. Aber es ist gefährlich, den Schwarm zu verlassen. Seine Größe schreckt nämlich Raubfische ab und jeder, der den Schutz der Wolke verlässt, begibt sich in Lebensgefahr. Also können die Einzelgänger wohl doch nicht von ihrer Neugier getrieben sein. Wahrscheinlicher ist, dass es sich um die besonders mutigen Exemplare handelt, dachte ich. Noch deutlicher wurde das, als ich bemerkte, dass es diese Ausreißer waren, die die Bewegungsrichtung des Riesenwesens vorgaben. Entfernte sich ein Fisch auch nur ein kleines Stück, floss die zähflüssige Masse sofort hinterher. Die wabernden Bewegungen, des Schwarms wurden also genau durch diese Einzelgänger verursacht. Eine ganze Weil trieb ich neben dem Schauspiel her und die Bilder prägten sich unauslöschlich ein.

Irgendwie drängte sich mir bei diesen Gedanken ein Vergleich des Fischschwarmes mit unserer Gesellschaft auf. Dabei stellte ich fest, dass es auch unter uns Menschen welche gibt, die aus der Masse hervorstechen und dadurch die Bewegung aller anderen beeinflussen. Irgendwann, zum Beispiel, erfand mal jemand das Rad. Seither ist nichts mehr wie es vorher war. Oder die Sumerer, sie brauten vor 4.000 Jahren das erste Bier. Danke Jungs! James Watt entwickelte die Dampfmaschine und schaffte damit schwerste körperliche Arbeit ab. Gleichzeitig legte er aber auch den Grundstein für den Reichtum der Wenigen, wie wir ihn heute als Exzess erleben. Ohne Gutenberg gäbe es keine Bücher und ohne Konrad Zuse keinen Computer. Neben den Erfindungen beeinflussten aber auch Ideen die Zukunft. In Frankreich zum Beispiel bereiteten die Kommunarden dem Absolutismus ein Ende und brachten die Demokratie in unser Leben. Ferdinand Lassalle gründete die erste Organisation, die sich für die Rechte unterdrückter und ausgebeuteter Arbeiter einsetzte. Und Ludwig Erhard erfand mit der Sozialen Marktwirtschaft das System, welches Deutschland reich gemacht hat. All diese Menschen waren wie diese kleinen mutigen Fische. Sie stachen aus der Masse hervor und änderten damit die Richtung aller.

Gern wüsste ich, ob Bernie Sanders sich als ein solch mutiger Fisch entpuppen wird. Leider geht das nicht, denn in der Menschenwelt findet man so etwas im Gegensatz zur Fischwelt immer erst sehr viel später heraus. Was ich aber jetzt schon weiß ist, dass die Bewegung unserer Gesellschaft weitergehen wird. Unaufhaltsam. Und was ich Euch dazu sagen möchte ist: Es nützt niemandem, nur die Missstände der Welt zu beklagen. Auf Verschwörungstheorien herumzureiten, selbst wenn sie keine Theorien mehr sind, sondern Praxis. Auch Flüchtlinge oder die Politikerkaste zu verdammen, verändert nicht die Bohne. Willst du, dass sich etwas tut, musst du ein mutiger Fisch sein. Du musst hinaus schwimmen und versuchen dem Schwarm eine neue Richtung zu zeigen. Auch Mahatma Gandhi war einer dieser Fische, einer der Großartigsten wahrscheinlich. Er rief seinen damals 600 Millionen indischen Landsleuten zu „Sei selbst die Veränderung, die du dir für die Welt wünschst“. Und weil ich genau daran glaube, sage ich dir heute in Abwandlung einer Parole, die mir während meiner Kindheit eingetrichtert wurde: „Von Gandhi lernen, heißt siegen lernen“. Denn siegen tut gut. Und zwar nicht nur im Fußball. 

Danke fürs Lesen und viel Vergnügen und Spannung bei den vor uns liegenden Spielen.
Jürgen
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