Samstag, 1. Februar 2014

Reisegedanken 1 - Sechsmannschlafzimmer

Die erste Nacht in einem »doorm room« der Matahari Lodge in Kuala Lumpur liegt hinter mir. 6 Personen beiderlei Geschlechts in einem fensterlosen Raum mit drei Doppelstockbetten. Nicht das Hilton, aber für umgerechnet 5,50 Euro auch einige Preisklassen unter einer Luxusherberge. Neben der Kostenseite gibt es bei dieser Art Unterkunft noch einen Vorteil. Man lernt Menschen aus aller Herren Ländern kennen, und zwar unvergleichlich einfacher als auf irgendeine andere Art.


Der gestrige Tag bescherte mir daher die meisten Bekanntschaften, die ich je innerhalb von 24 Stunden machte. Es fing schon am Flughafen mit Sarah an. Sie reiste mit ihrem Backpack von Australien nach Deutschland. Unvermittelt und unerwartet landeten wir gemeinsam in einem Doppelzimmer. Wir kannten uns nicht und trotzdem war es völlig normal, miteinander zu übernachten. Weiter ging es mit Bobby und Scott aus Seattle. Beide hatten ihre Bankerjobs gekündigt, um zu reisen und die Welt zu verstehen. Marco aus der Schweiz erzählte mir, wie er in Indien zur Meditation und zu sich fand. Dazu kamen tagsüber etliche Einheimische. Bei Adam, Zikri oder Adriana durfte ich erleben, wie lebensfroh die gut gebildeten jungen Leute hierzulande, selbst in einfachsten Jobs arbeiten. Einen Schuhverkäufer mit Uniabschluss findet man in Deutschland wohl eher selten.

Richtig lustig wurde es am späten Nachmittag. Im Reggae Café, dem Ort für Backpacker in Kuala Lumpur, sah ich Jose aus Brasilien am Nachbartisch bei seinen Bleistiftskizzen zu. Ich skizzierte auch, aber mit Worten und in meinen Computer hinein. Von links sprach mich plötzlich ein Typ mit schwarz gefärbtem Haar an. Mike, Australier und Erdölbohrer vor der hiesigen Küste, stellte er sich vor. So begann eine hochinteressante Unterhaltung. Er erzählte von neuen Öl- und Gasfunden in aller Welt, von Fracking und Tiefseebohrungen, an denen er rund um den Erdball beteiligt war. Der Aussie ist überzeugt, dass Öl und Gas in den kommenden Jahrhunderten nicht ausgehen. Erstens, weil der Verbrauch aufgrund effizienterer Technologien sinkt, zweitens, weil immer mehr gigantische Lagerstätten entdeckt würden.

Vertieft ins Gespräch bemerkten wir nicht, wie und warum eine sehr kleine, drahtige Malayin mit einem der Kellner des Cafés in Streit geriet. Die ungefähr 60-jährige war »really pissed off«, also schwerstens sauer, wie Mike feststellte. Sie griff sich einen Stuhl und warf ihn nach dem jungen Typen. Holz zerbrach. Daraufhin entfernten ein paar Leute die wild Strampelnde mit sanfter Gewalt. Man trug sie einige Meter die Straße hinunter und ließ sie dort frei. Kurz drauf kündigte anschwellendes Gegröl allerdings von ihrem erneuten Angriff.

Was dann geschah, verstand ich nicht gleich, weil die Dame, trotz ihres Alters blitzschnell war. Immer noch schrie sie hysterisch, es krachte, splitterte und plötzlich fühlte ich etwas an meinem Bein hinab laufen. Ehe ich begriff, sah ich einen kleinen Blutstrom in meinen rechten Schlappen sickern. Mike sprang auf und donnerte so laut los, dass die wütende Lady augenblicklich rannte, als seien die sieben Plagen hinter ihr her. Sie stürzte, rappelte sich auf und sprintete weiter. Unter meinen Schuhen knirschte es währenddessen. In diesem Moment wurde mir klar, was passiert war.

Mamacita, wie wir sie später nannten, schmiss einige der dickwandigen Gläser zwischen die Gäste auf der gut gefüllten Terrasse. Angesichts ihrer Winzigkeit war es unfassbar, mit welcher Wucht sie das tat. Drei der Anwesenden mussten verpflastert werden und wir alle können von Glück reden, keine derberen Blessuren davongetragen zu haben. Ich bekam einen schönen Verband von der Kellnerin und mein Bier für lau. Der Hüne neben mir war der Held, weil er mit seinem Gebrüll die Aggressorin vertrieb. Am Ende lachten wir trotz des Schreckens über ein erzählenswertes Erlebnis.

Den Abschluss dieses aufregenden Tages bildete mein Abendessen in einer der offenen Garküchen der Jalan Petaling in Chinatown. Am Büffet kam ich mit einer jungen Asiatin ins Gespräch, die sich nach meiner Bandage am Bein erkundigte. Mita kam aus Jakarta und hatte an diesem Tag beruflich in Kuala Lumpur zu tun. Wir saßen eine Stunde und sie erzählte mir von ihrer Arbeit bei einer Organisation, die Stipendien für internationale Austauschstudenten bereitstellt. Ihr strahlend freundliches Wesen erinnerte mich an die Indonesier, die ich vor 17 Jahren bei meiner ersten Asienreise kennenlernen durfte. Und ich beschloss, bald in dieses wunderschöne Land zu fliegen.

Insgesamt war es ein fabelhafter Tag. Abends im Bett flimmerte alles Gehörte und Gesehene noch mal über meine innere Leinwand. Trotzdem ich Alleinreisender bin, fühlte ich mich keinen Moment allein. Am wenigsten selbstverständlich in meinem Sechsmannschlafzimmer - haha. Doch selbst das passt irgendwie dazu. Auf Reisen sein ist einfach wunderbar. Mein geliebter Wilhelm Busch schrieb darüber einst:

Viel zu spät begreifen viele die versäumten Lebensziele:
Freude, Schönheit der Natur, Gesundheit, Reise und Kultur.
Darum, Mensch, sei zeitig weise!
Höchste Zeit ist‘s! Reise, reise!

Ich überlegte noch, was unterwegs sein für mich bedeutet. Hauptsächlich wahrnehmen denke ich aber auch Aufmerksamkeit - für Andere, und für mich selbst. Als ich mir vorm Einschlafen die Ohropax einschob, spürte ich Freude und dachte an Pataua, einen wunderschönen Platz am Meer im Norden Neuseelands.

Danke fürs Zuhören.
Jürgen