Dienstag, 21. Januar 2014

Was wir haben

Haben und Sein sind zwei Worte, mit denen ich mich in den letzten Wochen notgedrungen auseinandersetzen musste. Seit der Weihnachtszeit ordne ich nämlich die materiellen Überbleibsel meiner gescheiterten Ehe und des davorliegenden Lebens. Dabei komme ich mir ein bisschen vor wie die Täubchen im Märchen vom Aschenputtel, die die guten und schlechten Linsen aussortieren.

Unser gesamter Hausstand umfasst 40 Kubikmeter. Ich weiß das so genau, weil der Raum in dem alles lagert, eben diese Größe hat und voll ist. Bis zur Decke. Außerdem stellte die Spedition, exakt dieses Volumen in Rechnung. Wandelt man die Menge in normale Umzugskartons um, ergibt das 555 Stück. Natürlich nur theoretisch, da man eine Couch und Schränke nicht in Kartons packen kann, aber die Zahl beeindruckt, richtig? Am 21. Dezember blickte ich erstmals auf diesen unfassbaren Berg »Dinge« und empfand fast körperlich, »What the fuck ...«.

Im nächsten Moment kam mir anstelle von »Dinge« das Wort »Haben« in den Sinn. Kürzlich las ich nämlich Erich Fromms »Haben oder Sein«. Er setzt sich darin mit beiden Begriffen auseinander und beschreibt die Entwicklung unserer Charaktere und der Gesellschaft. Wir sind vom Sein zum Haben gekommen sagt er und, das individueller Besitz ein nachhaltiges soziales Gefüge behindert - Karl Marx lässt grüßen ... Fromm stellt auch fest, dass wir uns immer mehr Zeit zum Erwerb von »Haben« nehmen und dadurch immer weniger Zeit zum »Sein« bleibt. Und er schlägt vor, wie man diesen Prozess umkehren könnte. »Haben« denke ich beim Blick ins Lager, »Haben« ...

Warum aber war ich derart überrascht von unserem Haben-Berg? Schließlich lebte ich jahrelang in dem Haus, in dem meine Frau und ich all diese Besitztümer aufbewahrten. Ebenso packte ich einen guten Teil davon eigenhändig ein. Allerdings ist das dreieinhalb Jahre und einen Riesenhaufen Leben her.  Wahrscheinlich deshalb schockierte mich der Anblick - und - weil heute alles so anders ist. Seither passt, was ich täglich benutze nämlich im wahrsten Sinn des Wortes in einen Rucksack.

Es war mir entfallen, wie viele Dinge sich im Laufe der Zeit bei uns angehäuft hatten. Daher verwirrte mich die schiere Menge zunächst. Später jedoch kam eine Ahnung davon auf, was mich in den Kartons, Säcken und Kisten und unter den Bergen Luftpolsterfolie erwartete. Seither verbringe ich fast jeden Tag einige Stunden an diesem heimeligen Plätzchen in der Aura eines Lebens, das es so nicht mehr gibt. Allerdings ist das nicht das Einzige, was diesen Job so beschissen macht.

Da sind noch die räumlichen Gegebenheiten, die mich zwingen alles zigmal in die Hand zu nehmen. Und natürlich erzeugt das Wühlen in der vergangenen Gemeinsamkeit eine bedrückende Stimmung. Die ersten Tage waren unter diesem Gesichtspunkt besonders belastend. Die ganze Zeit dudelte Weihnachtsmusik durchs Lager und das bei wohligen 26 Grad und strahlendem Sonnenschein - draußen zumindest.

Drinnen kämpfte ich. Gegen Traurigkeit, die unverhinderbar aus dem Umzugsgut und aus den Lagerlautsprechern quoll und gegen die schiere Menge des »Habens«. Eine der vordersten, völlig deformierten Kisten, enthielt meine Jeanskollektion. 17 Hosen, mittlerweile fast alle zu groß, daneben bergeweise Möbel, Keramik, Töpfe, Bestecke, Klamotten, und und und .... Es war niederschmetternd.

Als die schlimmste Betroffenheit vorbei war, fragte ich mich, was zum Teufel wir mit all diesem Kram veranstalteten. Wer kann 17 Paar Jeans anziehen, wer 60 Paar Schuhe tragen, wer trinkt aus weit über 100 Gläsern? Wozu braucht man 5 Riesenkisten mit Weihnachtsdekoration und 3 für Ostern? Früher, in unserem Haus, lagerte all das, und noch mehr. Etliches davon wurde selten bis nie benutzt.

Hier und heute, auf einem Haufen, beängstigen mich die Besitztümer. Besonders wenn man bedenkt, dass ich ohne ernsthafte Einbuße an Lebensqualität, seit zwei Jahren mit zwei kurzen und zwei langen Freizeithosen, zwei Anzügen für die Arbeit, fünf Hemden, 7 Slips, ungefähr 8 T-Shirts, einem Paar Schuhe für die Freizeit, einem Paar für die Arbeit, zwei Paar Laufschuhen, Jesuslatschen und einigen weiteren Kleinigkeiten auskomme. Das hiesige Wetter spielt dabei natürlich eine gewisse Rolle. Minusgrade kennt man nicht in Auckland. Die Erkenntnis jedoch lautet, ich brauche nicht mehr. Jedenfalls im Wesentlichen. Und schon gar nicht diesen unglaublichen Berg an Kisteninhalten.

Es gibt kein Ebay in Neuseeland aber eine kleinere Variante - Trademe. Ich sortierte, fotografierte, beschrieb, stellte ins Internet, montierte, demontierte wieder und so weiter. Eine wahrhaft bescheuerte Arbeit, insbesondere wenn man sich anschaut, welchen Erlös man erzielt. Hier stellt sich die Frage nach dem "Wert". Selbst bei teuren Dingen ist er of geradezu lächerlich. Ein Rücktransport nach Spanien, wo meine Frau jetzt lebt, verbietet sich allerdings aufgrund der enormen Transportkosten ebenfalls. Außerdem sind viele Stücke dermaßen mit Erinnerung »beladen«, dass ohnehin nur loswerden hilft.

Ende der Woche werde ich den Prozess abgeschlossen haben. Dann bleibt ein kleines Lager in Auckland für Dinge, die ich behalten möchte und etwas Geld aus den Verkäufen. Und es bleibt ein Rucksack, den ich fülle und mit dem ich wieder aufbreche. Mit leichtem Gepäck reist sich‘s nun mal gut.

Warum ich mich wie bei Aschenputtel fühle, wollte ich noch erklären. Etliche Stücke, auch solche, die wir häufig nutzten, finden keinen Käufer. Sie sind nichts wert, bedeutet das nach marktwirtschaftlicher Lesart. Anderes, von dem ich nie geglaubt hätte, dass man es los wird, findet reißend Absatz. Am Ende entwickelt sich die Sortiererei zu einer Art Auswahlverfahren. Was ist gut, nutzbar, lässt sich verhökern, was ist erinnerungsschwanger, und was ist zukünftig unbrauchbar? Der Berg des Letzteren ist riesig. Wie bei den Täubchen im Märchen, die waren ebenfalls satt, nachdem die Arbeit getan war. Die Schlechten ins Kröpfchen...

Besitz belastet hat ein Freund mir mal gesagt. Vielleicht verkaufte ich darum schon in meiner Jugend alle Straßen und Häuser beim Monopoly, bereits vor dem Ende des Spiels. Tatsächlich stieg ich oft auf diese Art aus. Mir blieb nur Geld, aber damit konnte ich nicht mehr mitkämpfen, in der Würfelschlacht ums Haben. So ähnlich ist es jetzt auch. Ich bin raus, ausgestiegen, und irgendwie fühlt sich das gar nicht so übel an. Da »raus« aber kein Lebenskonzept sein kann, bin ich gleichzeitig auch wieder drin. Irgendwo.

Bin gespannt wie sich das Sein entwickelt, hier in diesem Irgendwo, und darauf, wie sich die Radikalkürzung des Haben auswirkt. I'll keep you posted.

Danke fürs Zuhören.
Jürgen