Sonntag, 15. Januar 2012

Vom Aussteigen und der Schwierigkeit des ersten Schrittes

»Selbst der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt.« Ein Chinese namens Laotse gilt als Schöpfer dieser uralten Weisheit. Das er mit ziemlicher Sicherheit nie gelebt hat, tut der Tiefgründigkeit der Worte keinen Abbruch. Egal wer letztlich diese Erkenntnis niederschrieb und sich die Urheberschaft ans Revers heften darf, sie ist beeindruckend simpel und wahr. Als eine Art Anfangsexperte kann ich das sogar beweisen. Erst kürzlich habe ich wieder einmal einen bedeutenden »ersten Schritt« getan.

Oft ist genau dieser Start das Schwerste am gesamten Weg. Es gibt zwar auch die einfachen Anfänge eines Weges. Zum Beispiel der Aufbruch in einen Pauschalurlaub. Schon vor der Abreise weiß man, dass alles organisiert ist. Und klappt was nicht, gibt's Geld zurück.
Diese also blenden wir mal aus und schauen auf die richtigen Aufbrüche, die, zu denen es Überwindung und Mut braucht und deren Endpunkt man nicht absehen kann. Der erste Schritt zum Erfüllen eines großen Wunsches - ausziehen bei den Eltern oder mit dem Rauchen aufhören rechne ich dazu. Solche Wege sind mühsam und mit Entbehrungen verbunden, entsprechend groß ist die Überwindung am Anfang. An den Beginn meines Weges zum begehrten Marathonfinish erinnere ich mich noch deutlich. Ich war ungefähr 30 und begann nach einigen Jahren Sportabstinenz mit dem Training. Gepusht von meinem Ehrgeiz und Laufpabst Dr. Strunz verfolgte ich das Ziel verbissen. Füße und Muskeln schmerzten und völlig hinüber kam ich von den ersten Laufversuchen zurück. Ich hasste mich und meine Idee. Irgendwann machte das Laufen Spaß.

Der Beginn aber war überaus schwierig. Ich hielt trotzdem durch und zwei Jahre später nach 42 Kilometern eine Finishermedaille in der Hand. Kurz vorher durchquerte ich erschöpft einen illuminierten, vernebelten und mit Rockmusik beschallten Tunnel und kam als »Adrenalinfeder« im Innenraum des Münchner Olympiastadions an. Die letzten Meter auf der geschichtsträchtigen Tartanbahn machten mir Gänsehaut. Freudentränen liefen über meine Wangen. Ich war am Ziel und glücklich - der schwere »erste Schritt« vergessen. Als überreichlich empfand ich den Lohn der Mühen. Marathonfinisher zu sein, steht auf der Wunschliste etlicher Menschen weit oben. Oft hörte ich von einem Gegenüber ein trauriges »wie gern würde ich doch auch ...« oder ein bewunderndes: »wie du das nur schaffst ...«. Ich antwortete: »Mach doch, jeder kann das« und erntete meist resignierendes und gelegentlich neidvolles Lächeln.

Vor einiger Zeit habe ich erneut einen ersten Schritt getan. Einen schweren, den schwersten meines Lebens vielleicht. Ich bin ausgestiegen. Ich tat das, wovon viele Mitmenschen träumen und worüber sie in sehnsuchtsschwangeren Gesprächen bunte Bilder malen. Vor eineinhalb Jahren noch wohnte ich in einem nagelneuen Einfamilienhaus, war Geschäftsführer und hatte ein ordentliches Ein- und Auskommen. Alles lief - schnell natürlich. Mein Ehrgeiz war der Motor für das Tempo in meinem Alltag, dem meiner Familie, im Sport und im Unternehmen. Jeder der Erfolg haben will weiß, dass immer häufiger der Schnellste gewinnt, nicht mehr der Beste. An einem bestimmten Punkt spürten meine Frau und ich, dass wir genau das nicht mehr wollten und wichtiger noch, nicht mehr konnten.

So fassten wir den Entschluss; mit allen Konsequenzen. Nun sind wir »unterwegs«. Zuerst in Europa, jetzt in Asien. Ich sitze im Moment in der Lobby eines Hostels in Phnom Pen, Kambodscha, als Aussteiger. Ich bin das, wovon viele träumen. Und ich will sagen, dass es schwer ist diesen Weg zu gehen. Sehr schwer sogar. Wie beim Marathonlauf war allerdings auch hier der erste Schritt der Schwerste.

Stellen sie sich vor, ab morgen gibt es all die liebgewordenen Annehmlichkeiten nicht mehr. Haus, Auto, regelmäßiges Einkommen und alle anderen Vorzüge eines Lebens in geordneten deutschen Bahnen. Sie haben einen Rucksack, Backpack genannt in der Fachsprache der weltweiten Travellergemeinde. Er ist der einzige Fixpunkt. Es gibt schmutzige Unterkünfte und gefährliche Trails in den Bergen. Sie werden von wilden Hunden attackiert und müssen wegrennen, mit Sack und Pack. Sie haben ein sehr begrenztes Budget und machen sich trotzdem auf den Weg, ohne TUI und Meyers Weltreisen, ohne gebuchtes Hotel und ohne ein Heim, in das sie nach einiger Zeit zurückkehren können.

Meine Frau und ich haben genau diesen Schritt getan. Wir wollten ihn und waren uns der Konsequenzen bewusst. Manchmal konnte ich deshalb nachts nicht schlafen; zu Hause, in Rieti, Malta, Siem Reap oder Saigon. Und ich habe mich gehasst dafür, einen solch radikalen Weg gewählt zu haben. Der Hass war dem beim Laufeinstieg ähnlich, nur stärker.

Aber ich weiß tief in mir, dass es richtig war, diesen »ersten Schritt« zu tun, aufzubrechen. Ich ahne, dass manche neidisch auf mich blicken; andere vielleicht besorgt oder kritisch. Sicher bin ich allerdings, wie ich antworte, wenn wieder die alten Sprüche kommen. Das traurige »wie gern würde ich doch auch ...« oder das bewundernde »wie du das nur schaffst ...«. Ich werde sagen: »Mach doch, jeder kann das«. Es braucht nur den »ersten Schritt«.

Heute Morgen segnete ein Mönch meine Frau und mich in einer wunderbaren buddhistischen Zeremonie. Das Mönchlein sagte, es stehe gut um uns und nun gibt es keinen Zweifel mehr. Der Lohn des ersten Schrittes wird dieses Mal noch reichlicher sein als nach dem Marathonfinish. Mit einem glücklichen Zwinkern im Auge und vor der Brust gefalteten Händen verabschiedet sich für heute Ihr Jürgen.

Danke fürs Zuhören.