Und am Ende: Ach ja, da war doch noch was. Was wollte deine Tochter gleich? Mist, vergessen. Und eigentlich solltest du wieder mal was mit deiner Frau unternehmen. Bei deinem vernachlässigten Kind rettet dich wie immer eine kreative Ausrede. Bei deiner besseren Hälfte der Konjunktiv. Solltest - ist nicht zwingend, kann also warten. Kaffee runter kippen, ab ins Büro.
Am Wochenende reißt du die Versäumnisse der Woche raus. Zuerst die Beruflichen, klar. Dann das Private. Deine Tochter steht nicht zur Verfügung, trifft sich mit ihren Freunden. Wiedergutmachungsversuch eins gescheitert. Deine Frau beschwert sich, dass du viel zu wenig Zeit für die Familie im Allgemeinen und für sie im Speziellen aufbringst. Sie hat ja recht, aber muss sie deshalb so ein Theater veranstalten? Streit, den ganzen Samstagabend und du wolltest mit ihr essen gehen. Danach wäre eine gute Gelegenheit endlich mal wieder was in der Kuschelecke zu unternehmen, hätte sie ja auch was davon. Nach Wochen ohne Sex. Und sie streitet ... Wiedergutmachung zwei leider ebenfalls gescheitert. Scheiße!
Kommt dir die oben beschriebene Situation bekannt vor, gehörst du zur Mehrheit der arbeitenden deutschen Männer. Glückwunsch, du bist kein Außenseiter. Selbst wenn das wenig tröstlich klingt. Schade nur das niemand zu Hause die bedeutenden Dinge versteht, die dich von dem abhalten, was du vor Urzeiten, am Tag deiner Hochzeit versprochen hast. Und es war dir tatsächlich ernst damit. Sie könnten sich wenigstens etwas erkenntlich zeigen für deinen Einsatz. Schließlich tragen die Früchte deiner Bemühungen auch nicht unerheblich zu eurem guten Auskommen bei. Die neue Küche, der Mini für deine Frau und das Macbook für deine Tochter, glauben die etwa das alles fällt vom Himmel?
Nein, tut es nicht, und das wissen beide genau. Und sie wissen ebenso, warum du dich so abkämpfst. Die Goodies bietest du als Tauschobjekte, für dich, deine Zeit und deine Zuwendung. Eine Weile halten sie das durch, ein Minicabrio zu haben ist schließlich cool und entschädigt für einige Pein. Auch einen Mac zu besitzen hebt dein Kind aus dem Kreis der Normalos hervor und dafür ist es dankbar, zwei Wochen lang. Oder nimm das Beispiel vom Samstagabend. Offenbar ist die Wirkung der Entschädigung Auto schon verpufft. Aber mehr ist im Moment einfach nicht drin, denkst du und hast wahrscheinlich recht. Warum verbrauchen sich diese Dinge nur so schnell?
Bei deiner Tochter ist das unproblematischer. Sie hat begriffen, dass es für dich wichtigere Sachen gibt, also nimmt ihr Interesse an dir auch Stück für Stück ab. Sie lebt trotzdem und ist dank deiner Entschädigungsextras ganz gut angesehen im Freundeskreis. Nur einen Vater, ich meine einen wirklichen Vater, den Vertrauten und Kumpel, den hat sie nicht mehr. Und du wirst genau dies spüren - wenn du mal wieder Zeit hast zum Spüren. Aber da ist ja wenigstens deine Frau, die, die du liebst - wenn Zeit hast zum Lieben. Exakt diese Einschränkung könnte sie irgendwann dermaßen stören, dass sie den Mini nutzt, um damit ihr Date zu sehen. Den Kerl, der nicht besser ist als du, nicht die Bohne. Nur bietet er ihr etwas, dass du nicht geben kannst und dessen Existenz dir bisher nur Probleme brachte - Zeit!
Und nun? Noch mehr Goodies! ‚Danke Papa‘ sagt deine Tochter und freut sich über das Geschenk. Gerettet, für einen Tag oder zwei. Bei deiner Frau ist das nicht so einfach, wenngleich die Südseereise vielleicht vorübergehend für Ruhe sorgen würde. Und danach? Zudem kostet die roundabout 25 Riesen. Wirklich zu viel, aber du könntest ja dieses Exportprojekt ... Scheiße, dann ziehst du am besten gleich ins Büro und deine Ehe hält nicht mal so lang, wie du brauchst, um die Kohle zusammenzubekommen. Und eigentlich bist du schon so im Arsch, Platz für Extraleistungen bleibt jedenfalls kaum. Verflixte Falle, in die du dich begeben hast. Wo ist bloß der Fehler?
O.K. kleiner Hinweis. Du kannst doch rechnen. Von deinen 7.000€ Gehalt lebt ihr im Wesentlichen. Davon zahlst du 1.500 € für dieses sündhaft teure Küchenteil und 600 € fürs Cabrio. Das bedeutet, dass rund 30% deines Einkommens für diese zwei Entschädigungsgoodies drauf gehen. Hättest du sie nicht gebraucht, um dir Arbeitszeit zu erkaufen, brauchtest du theoretisch fast 1/3 weniger zu schuften. Nicht mehr 70 Stunden, sondern 49. Und wie du leicht bemerken wirst, bliebe die gesparte Zeit für anderes übrig. Dämmerst‘s? Ich verspreche dir, 21 Stunden wollen die beiden gar nicht. Nicht mal den Mini, den Mac oder die Küche brauchen sie. Was sie sich wirklich wünschen, bist DU. Denn dich lieben sie - noch.
Nur Theorie, sagst du? Und, wie bitte? Dein Job ist dir auch wichtig? Bist du bescheuert? Dann überleg dir doch selbst einen Ausweg aus der Falle. Schwierig, ich weiß. Vergiss einfach die Südseereise und den ganzen Scheiß! Verlass Frau und Kind und zieh richtig durch im Job. Erfolg und Kohle winken - und ein Dasein mit schlechtem Gewissen. Und ohne Familie, wahrscheinlich. Oder - bleib und zeige, was du für sie empfindest, so, dass sie es bemerken. Dein Fehler liegt lange zurück, aber man kann fast alles korrigieren. Neue Stelle, Selbstständigkeit, dein Buch willst du seit ewigen Zeiten schreiben ... Möglichkeiten gibt‘s jede Menge. Nur ergreifen solltest du eine. Nicht Aussteigen ist das Ziel, sondern Einsteigen - in dein Leben, dein Selbstgewähltes, Selbstbestimmtes, und sobald du dich darin zurechtfindest, dein Geliebtes. Probiers. Gescheitert bist du doch schon.
Danke fürs Zuhören,
Jue