Seit einer Weile hält der Frühling Einzug und ringsum beginnt zu treiben und zu blühen, was den Winter überlebt hat. Dieses Erwachen gleicht jedes Mal einem Start in etwas völlig Neues. Es bewegt uns und setzt verschüttete Kräfte frei. So zumindest geht es mir, seit ich denken kann. In Erwartung dieses Gefühls wanderte ich heute Morgen los.
Ich entdeckte Zweige, an denen sich frisches Grün zeigt. Sie belebten mich und gaben mir positive Energie. Bunte Blüten ließen mich innerlich jubeln und je länger ich ging, desto größer wurde ich. Tatsächlich, mir war, als wachse ich der Sonne entgegen, die all diesen Zauber vollbringt. Im Rucksack trug ich den Laptop, weil ich mir vorgenommen hatte, über genau diese Eindrücke ein paar Notizen zu machen. An einem Platz, der im Sommer ein Biergarten ist, wollte ich sitzen und darüber schreiben.
Auf dem Weg dorthin ging ich an einem Ufer entlang, welches mit Steinen befestigt ist. Wegen der schwarzen Farbe und der glatten Oberfläche tippte ich auf Basalt, ansonsten hatten sie jegliche Formen und Dimensionen. An einer Stelle fiel mir eine Art Skulptur auf. Auf einem kleineren Bröckchen lag ein größeres, darüber ein noch größeres und ganz oben ein ziemlicher Brocken. Das Ganze war einer umgekehrten Pyramide nicht unähnlich, schien aber völlig außer Balance zu sein. Ich vermutete, dass irgendein Künstler alles durchbohrt und eine Art stabilisierenden Kern, vielleicht aus Metall eingezogen habe. Interessant sah es jedenfalls aus und je weiter ich ging, desto mehr dieser seltsamen Gebilde entdeckte ich. Einige standen so schief, dass sie eigentlich ein Fundament gebraucht hätten, um stehen zu bleiben. Man sah aber nichts davon und ich überlegte, wer außer einem Künstler, für etwas derart Unwichtiges solchen Aufwand betreiben könnte.
Dann kam ich zu einem besonders schiefen Türmchen, welches ganz nah am Wege stand. Fünf Steine saßen übereinander, und wenngleich man Kunst ja nicht unbedingt angrapschen soll, konnte ich nicht anders. Zu sehr interessierte mich, ob das Ganze federn würde und wie es überhaupt zusammenhält. Die Neugier des Ingenieurs trieb mich und so griff ich nach dem obersten Bröckchen. Meine Überraschung war groß, als ich es plötzlich in der Hand hielt. Was soll das denn jetzt, dachte ich verdutzt. Beim Versuch ihn wieder hinzulegen erschrak ich fürchterlich, als das ganze Türmchen mit leisem Gerassel zusammenstürzte. Schuldbewusst blickte ich mich um. Zum Glück, niemand da!
Dann aber entdeckte ich ihn. In einiger Entfernung und inmitten von mindestens zehn weiteren dieser seltsamen Türme saß ein bärtiger Mann und beobachtete mich. Er sah schmuddelig aus. Vielleicht ist er gefährlich, dachte ich. Trotzdem war zu vermuteten, dass er irgendetwas mit dieser Sache zu tun haben könnte. Darum ging ich in seine Richtung und entschuldigte mich vorsichtshalber schon aus einiger Entfernung: „Tut mir leid“ rief ich, und „ich bin nur leicht dran gekommen“. Er lächelte und meinte, „Das macht doch nichts, dazu sind sie da.“ „Marko“ stellte er sich vor und an seinem Akzent erkannte ich, dass er irgendwo aus dem ehemaligen Jugoslawien stammen müsse. Er zeigte mir, wie er ganz ohne Hilfsmittel die unförmigen Brocken übereinander und ins Gleichgewicht bringt. Nur wenige Minuten dauerte es und er hatte das nächste Türmchen gebaut. Meine Versuche scheiterten kläglich. „Es braucht schon etwas Übung. Man muss spüren, wo der Schwerpunkt liegt und dann sehr vorsichtig sein.“ Trotz Mühe gelang mir innerhalb einer viertel Stunde kein einziger Turm.
Ich wollte wissen, ob er Künstler sei. Da senkte sich sein Blick leicht „Nein“ antwortete er „... ich bin ... nichts.“ „Wie meinst du nichts?“ fragte ich. Und da begann Marko, von sich zu erzählen: Er sei nichts, weil er eben keinen Beruf habe. Alle definieren sich aber über das, was sie tun. Er hingegen habe noch nie in seinem Leben gearbeitet, jedenfalls nicht in einem Sinn, den auch andere als Arbeit wahrnehmen würden, und er wolle das auch nicht. Er sprach mit Akzent aber in gewählten Worten, schien also durchaus intelligent zu sein. Ein winziges Einkommen beziehe er aus einer Art Sozialhilfe, für Unterkunft und Nahrung sei dadurch gesorgt. „Das erzieht zur Bescheidenheit.“ meinte er. „Und ich gebe der Gesellschaft ja auch etwas zurück. Aber, all die tollen Sachen, die es da in eurer Welt gibt, werde ich nie haben. Auto, Handy, Computer, ... Es ist aber eigentlich nur die Frage, womit man selbst zufrieden ist. “Was gibst du zurück?“ wollte ich wissen. „Schau, ich baue diese Dinger hier.“ und er zeigte auf das Steinhäufchen, das er grad übereinanderstapelte. „Du glaubst nicht, was die bei Menschen auslösen. Sie erzählen mir über ihr Verständnis von Kunst oder ihre Probleme und Freuden, ja manchmal sogar ihr ganzes Leben. Und ich höre zu. Fast alle gehen froher, als sie gekommen sind. Oft fühle ich mich ein bisschen wie ein Schamane oder so was, weil es mir vorkommt, als könne ich ihnen etwas von ihrer Last nehmen. Mit meinen Türmchen und indem ich zuhöre.“ „Glaubst du, alle tragen eine Last?“ „Fast alle sorgen sich zumindest. Um Geld zum Beispiel. Wenn sie krank sind, tritt an die Stelle des Geldes ihre Gesundheit. Es gibt aber auch die Sorgen um die Liebe, um ihr Verlieren oder Finden.“ So saßen wir eine Weile und ich merkte, wie ich anfing, Marko zu beneiden. Er war ein so kluger, bescheidener und trotzdem lebenslustiger Typ, dass man gar nicht anders konnte, als ihn zu mögen.
Als ich später zurückkam, war er verschwunden. Ich setze mich auf den Platz, auf dem er gesessen hatte und versuchte zwei Steine übereinanderzustapeln. Wieder scheiterte ich. Zuerst wollte ich mich ärgern, dann aber dachte ich an das, was Marko gesagt hatte: „Es ist nur eine Frage dessen, womit man zufrieden ist.“
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