Freitag, 5. Oktober 2012

Lebensbeulen


Kürzlich habe ich etwas über ein Thema gelernt, dass vor allem Frauen gern verdrängen. Es ging ums Altern. Nicht etwa, dass ich mich mit meinen 48 Lenzen alt fühlen würde. Nur bin ich natürlich nicht mehr ganz taufrisch, obwohl mich meine meist jugendlichen Mitschüler in der Sprachschule wie einen der ihren behandelten.

Ich kam als Aussteiger zu ihnen und erzählte von unserer Weltreise im letzten Jahr worauf sich die Zahl meiner Facebookfreunde fast verdoppelte. Ich war interessant und konnte Geschichten erzählen, das hielten sie für cool - und cool sein hält jung. Es scheint wirklich etwas dran zu sein an der Behauptung, dass man so alt ist, wie man sich fühlt.

Im Moment reicht es allerdings erst mal mit dem Reisen. Auf der Suche nach einem Plätzchen, an dem wir für eine Weile Ruhe finden und vielleicht sogar gemeinsam alt werden, sind wir auf Neuseeland gestoßen. Wir fanden beide, dass dies das schönste Land der Welt ist. Nun wohnen wir seit Kurzem hier in Auckland in einem winzigen Appartement. Die Ausstattung ist einfach und nicht mehr taufrisch. Dafür liegt es gut, ist preiswert und die Küche ist ordentlich ausgestattet, sodass wir uns selbst verpflegen können.

Meine Frau musste kürzlich leider für einige Zeit zurück nach Deutschland, also war ich allein. Und immer wenn ich Single bin, tue ich ungewöhnliche Dinge. Zum Beispiel schaue ich nach dem Lebensmittelvorrat oder dem Zustand meiner Kleidung. Das ist deshalb außergewöhnlich, weil ich ansonsten ein liederlicher Mensch bin, zu meinem und mehr noch zu Katrins Kummer. Meine Jeans fliegen normalerweise am Abend irgendwo hin und bleiben in der Landeposition liegen, bis ich am Morgen wieder in sie hinein steige.

Heute jedoch wollte ich meine Hosen unbedingt ordentlich über dem Kleiderständer neben meinem Bett hängen sehen, nur behinderte der dicke Ledergürtel die Umsetzung des Vorhabens. Vor ein paar Tagen hätte mich so was nicht die Bohne interessiert, unter den jetzigen Umständen allerdings, war es ein »no-go«. Also, Riemen raus, wie jedes Mal, wenn ich die Jeans in den Waschkorb lege. Den Gürtel hängte ich an einen Haken. So schaukelte er im Licht der Nachttischlampe direkt vor meinen Augen herum, als ich beim Schlafengehen an das Ständerchen stieß. Dieser Anblick und der angenehm entspannte Zustand kurz vor dem Einschlafen ließen meine Gedanken fließen.

Fast jeder Jeansträger kennt das: Man besitzt einen Ledergürtel, hat sich an ihn gewöhnt und ihn irgendwie lieb gewonnen. Er überlebt etliche Jeanshosen und fühlt sich an, als ob er dazugehört. Manche Stellen sind blank gescheuert, andere rau. Das Leder riecht noch etwas nach dem Tier, aus dessen gegerbter Haut er geschnitten wurde. Gekauft habe ich meinen einst bei einem Schuster in Palermo und so oft mir Katrin auch nahelegte, dieses alte Ding wegzuwerfen, so oft musste ich sie enttäuschen. Er hat schließlich Patina angesetzt, und zwar echte, die nur die wirklich guten Stücke bekommen.

Ich liege also in meinem Bett und schaue den pendelnden Gürtel an. Im Licht der Nachttischlampe bemerke ich die Unzulänglichkeiten und obendrein, dass er krumm ist. Das tägliche Festzurren hat aus dem ehemals geraden Riemen eine Art Bogen geformt. Die Löcher für die Schnalle sind oval aufgeweitet und zu meiner Freude stelle ich fest, dass ich anfangs die weiter vorn liegenden benutzte. Entweder hat sich das Ding gedehnt oder ich habe abgenommen.

Dort wo die Gürtelschlaufen der Hose ins Leder drücken, formten sich kleine Beulen aus. Wie er da so hängt, erinnert er mich an einen alternden Menschen, noch keinen Greis, jedoch jemanden, der viel erlebt hat. Ich betrachte die teils tiefen Kratzer im Material und mir fällt die Ähnlichkeit mit Narben auf, die man nach Verletzungen davon trägt. Manche sind nur oberflächlich, andere deutlich eingegraben.

Den Gürtel hat das Leben geformt. Gut, schlussendlich wohl eher meine Hüfte aber er ist Abbild seines Lebenswegs geworden - meines groben und mitunter fürsorglichen Umgangs mit ihm. Ich erinnere mich, dass ich ihn in seiner Jugend gelegentlich mit Lederfett einrieb. Ab und an diente er im Wald allerdings auch als Tragegurt für Brennholzbündel. Am Ende ist es ein simpler Gegenstand. Ein Mensch hingegen ist um so vieles gewaltiger und komplexer und trotzdem ähneln sich beide im älter werden auf eine abstrakte Weise.

Ich denke an meinen Körper und sehe, wie er sich verändert. Es gibt »Beulen«, wo früher keine waren. Die Spannung weicht langsam aus den Muskeln. Manche Narben sind sichtbar, andere im Inneren verborgen. Die guten wie die schlechten Zeiten haben meine Persönlichkeit und mein Äußeres geprägt. Jedoch versuche ich wie fast alle Menschen mit mehr oder weniger Aufwand zu verhindern, dass man die Eindrücke und Verformungen sieht. Allerdings lässt sich Lebensalter nur bedingt verstecken. Und das ist gut so. Man bleibt ein Abbild des gelebten Lebens.

Im Einschlafen verschmelzen meine Lebensbeulen mit den Schrammen des Gürtels und ich denke, dass ich ihn liebe, dieses olle Ding und das Altern nicht schlimm ist, sondern auch liebenswert macht - und wertvoll - für die, die uns mögen.

Danke fürs Zuhören.
Ihr Jue