Mittwoch, 26. Dezember 2012

26 Grad Weihnachten


Die Verglasung in unserem Wohnzimmer reicht vom Boden bis zur Decke. Holzjalousien auf der Innenseite schützen vor unerwünschten Blicken und vor der Sonne, die hier meist recht heftig scheint. Vom Sofa aus schaue ich auf eines der wenigen historisches Gebäude Aucklands. Man findet deshalb nicht viele davon, weil die Besiedelung Neuseelands erst vor etwa 180 Jahren begann.

Von der Fassade gegenüber strahlen zwei Leuchtreklamen in die Nacht. Die Obere verrät, dass die Etage von einer der bekannten Elektronikfirmen genutzt wird. Deren Bedienstete gehen dort täglich ihrem Big Business nach. Im Normalfall zumindest, denn zur Zeit befindet sich das Land im »Christmas Leave«.

Beide Worte zusammen bedeuten »Weihnachtsurlaub«. Schaut man aber ohne den weihnachtlichen Zusammenhang nur auf das englische »leave«, handelt es sich um die verbale Aufforderung zum Verlassen eines Ortes. Die überwiegende Zahl der Aucklander scheint es dann auch in selbigem Sinne zu verstehen.

Wie leergefegt wirkt die Stadt im Moment. Tagsüber herrscht kaum Verkehr. Am Abend hört man im Hafenbecken die Wellen plätschern und am Morgen dringt Vogelgezwitscher aus den rot leuchtenden Pohutukawabäumen. Deren Blüte zeigt den Neuseeländern an das Weihnachten ist. Auch an dem Haus mit den zwei Leuchtreklamen lässt sich die Urlaubszeit ablesen. Wegen der zwölf Stunden Zeitverschiebung zum Stammhaus in Holland arbeiten die Businesstypen der Elektronikcompany von gegenüber in der Regel rund um die Uhr. Jedoch bleiben zurzeit die normalerweise nachts hellen Fenster dunkel, die Büros verwaist.

Die zweite gleißend rot strahlende Lichtwerbung zeigt den Schriftzug des im Erdgeschoss gelegenen irischen Pubs »Danny-Doolans«. Üblicherweise herrscht hier jeden Tag von 18,00 bis 4,00 Uhr Hochbetrieb. Die Lautstärke der Lebensfreude erreicht gewöhnlich zwischen 2 und 3 Uhr morgens ihren Höhepunkt. Zu dieser späten Stunde versuchen die Gäste drinnen wie draußen, die dröhnende Livemusik zu übertönen. Manche wetteifern auch mit dem verstärkerbewehrten Sänger der Kapelle um die ergreifendsten Schluchzer.

Als Ergebnis durchweht eine kunterbunte Mischung aus kreischenden weiblichen Stimmchen, röhrenden Männerorganen und dumpfen Beats die Hafengegend. Heute Abend hingegen findet lediglich eine Handvoll Menschen den Weg zu den 100 Biersorten und den angeblich besten Steaks der Stadt. Wird wohl eine ruhige Nacht, für uns und wahrscheinlich auch für die Mitarbeiter im »Danny-Doolans«.

Es ist faszinierend, in welch kurzer Zeit die quirlige Metropole in eine Art Weihnachtsstarre verfällt. Das gesamte Kiwivolk begibt sich für drei bis vier Wochen in die Sommerfrische. Nicht einmal Touristen trifft man mehr. Dabei schlendern sie normalerweise zu tausenden in den Straßen herum. Zwar erzählten mir meine Kollegen schon vorher vom großen Weihnachtsexodus, trotzdem überraschten mich die tatsächlichen Ausmaße der Geschichte. »Enjoy your first Christmas in the southern hemisphere« empfahlen sie mir zum Abschied in den Weihnachtsurlaub und machten sich in die unterschiedlichsten Richtungen aus dem Staub.

Merkwürdigerweise kam in den letzten Tagen auch bei Katrin und mir Unruhe auf. Dem seltsamen Gefühl von sommerlicher Reiselust zu weihnachtlicher Heimelzeit verdankten wir letztlich wohl die Idee uns unter das fahrende Kiwiurlaubsvolk zu mischten. Reisemüdigkeit hin oder her, die Ferne ruft. Gestern mietete ich also erneut einen kleinen Campervan, mit dem wir diesmal die Gegend um die »Bay of Plenty« südlich von Auckland bis hinunter nach Gisborne erkunden werden. Der Ort verfügt über eine bescheidene Berühmtheit, weil es auf der ganzen Welt keine östlicher gelegene Stadt gibt. Von den Stränden ringsum überträgt das Fernsehen daher oft die ersten Silvesterfeuerwerke des neuen Jahres in die Welt.

Mit dem Örtchen Rotorua lockt ein weiteres Ziel. Warmes Wasser tritt hier an vielen Stellen an die Erdoberfläche und ein leichter Schwefelgeruch weht von den zahlreichen Vulkanen der Umgebung herüber. Im Sand des Badestrands kann man sein eigenes kleines Thermalbad buddeln. So sagt es zumindest der Reiseführer. Wir werden sehen.

Trotz des wechselhaften Wetters freuen wir uns auf einen interessanten Trip. Jedoch bleibt der Eindruck, dass in diesem Jahr etwas anders ist als sonst. Gestern nämlich war der erste Weihnachtsfeiertag, an dem wir gewöhnlich unsere Familien besuchen und mit der gleichen Freude Geschenke verteilen, mit der wir sie einsammeln. Diesmal allerdings trafen wir uns stattdessen vor dem Bildschirm zu ausgedehnten Skypegesprächen. Zwar ist dies eine ungewohnte Art des Beisammenseins, trotzdem fühlten wir uns dadurch ein Stück weit zu Gast in der Heimat.

Dort ist es wie immer. Man sitzt am festlich gedeckten Tisch unterm Weihnachtsbaum, schlingt Unmengen köstlichster Leckereien in sich hinein und amüsiert sich über Späße, die so nur im leicht angeschickerten Zustand mit Weihnachtsmannmütze gelingen. Vor den lustigen Videogesprächen via 20.000 km Datenautobahn plagte Katrin und mich ein klein wenig die Sehnsucht nach dem Gewohnten. Beide spürten wir Unbehagen. Und um ehrlich zu sein, drängelte sich im Verlauf des Tages sogar das eine oder andere Tränchen aus dem Augenwinkel und kullerte die Wange herunter. Bei mir natürlich mehr versteckt, da Männer ja nun mal nicht weinen.

Nach den Gesprächen saßen wir stumm nebeneinander und warteten auf die neuen Gefühle, hauptsächlich auf eine Art Heimweh. Plötzlich fragte meine Frau »spürst du was«? Ich wusste sofort, was sie meint. »Nee ...« Erwiderte ich zögerlich, und als ich merkte, dass sie lächelte »Freude - irgendwie ...«. Ja, wir wären auch in diesem Jahr gern mit Familie und Freunden zusammen. Aber schmerzt irgendetwas, weil es nicht so ist? Nein, im Gegenteil - wir freuen uns und fühlen die Sicherheit mit der Auswanderung den richtigen Schritt getan zu haben. Und das, obwohl der Traum von Neuseeland vorher komplett anders aussah. Anstelle der Einzimmerwohnung in der Großstadt stellten wir uns eher ein Leben in der Natur vor. Wir sahen uns eingebettet in eine der großartigsten Landschaften der Welt.

Auckland dagegen passierte rein zufällig. Hier kamen wir an und hier traf ich auf Menschen, die an meinem Wissen und meinen Vorstellungen Interesse zeigten. So wurden wir Arbeitskollegen. Anfangs störte die Planänderung jedoch gibt es neben den Idealen auch immer noch die reale Bodennähe, die leider in profaner Verbindung zum Materiellen steht. So kam die Idee vom »Wildlife« erst mal in die Mottenkiste. Die Gedanken vom Leben auf dem Land mussten Notwendigem weichen, den Platz in der Natur ersetzte der interessante Job in der Großstadt - vorerst zumindest.

Stellt sich die Frage, ob das Gefühl in der erträumten ländlichen Idylle besser wäre als in der City. Macht wirklich der Ort den Unterschied zwischen Glück und Unglück, zwischen Zuversicht und Hoffnungslosigkeit aus? Unmengen Menschen glauben daran, dass es lediglich eines Umzugs an einen der »Traumplätze« bedarf, um endlich glücklich zu sein. Sie sehnen sich in die hügelige Toscana, an die Palmenstrände der Karibik oder in die endlose Weite kanadischer Wälder. Sollten sie in ihrem Leben jemals dort ankommen, was in der Regel eher unwahrscheinlich ist, stellen sie schnell fest, dass das herbeigesehnte Glück auch hier nicht einfach auf der Straße liegt. Ich hegte früher ähnliche Erwartungen, die in Gänze unerfüllt blieben, egal welchen Traumplatz ich probierte.

Todtraurig lag ich schon am weißen Strand einer kleinen Südseeinsel, schaute auf eine palmengerahmte Lagune und hatte Angst vor der Zukunft. Ohne jegliches Interesse an diesem traumhaften Ort und wichtiger noch, ohne Idee was der nächste Tag bringen soll, verging die Zeit in eintönigem Gleichklang. Ein anderes Mal saß ich in meiner Wohnung in der Schweiz mit Blick auf den Lago Maggiore. Gerade hatte ich eine fast unanständig hohe Provisionszahlung erhalten. Trotzdem plagte mich Einsamkeit. Ich fühlte mich nicht nur mutterseelenallein, sondern ich war es auch und der Trübsinn ließ sich nicht vertreiben, trotz dickem Bankkonto.

Im Gegensatz dazu erlebte ich himmelhoch jauchzende Freude beim Kampf mit waagerecht peitschendem Sturm und Regen. Schweiß und Nässe vermischten sich auf meiner Haut. Kurz zuvor hatte ich einen krachenden Konkurs hingelegt und war losgelaufen, den Frust und die Trauer über den Verlust loszuwerden. Schmutzig und mit schwerem Rucksack wanderte ich durch eine der banalsten Gegenden Ostdeutschlands. Ein Ort ohne Naturgroßartigkeiten, an den sich kein einziger Mensch träumen würde und doch verwandelte er mich. Plötzlich verschwand die Angst. Sie wich dem Hochgefühl des Sieges gegen die Gewalten der Natur. Aus der Dunkelheit keimte damals neues Vertrauen.

Heute leben wir in Neuseeland, in der Großstadt Auckland und nicht auf dem erträumten Land. Trotzdem sind wir glücklich. Nicht die Besonderheit der Stadt beflügelt uns, sondern in uns hat sich etwas verändert. Die Auszeit hat uns verstehen lassen, dass die wichtigen Dinge eigentlich gar keine Dinge sind. Sie sind immateriell, nicht greifbar also und schon gar keine Orte. Während meiner Jugend im Osten Deutschlands gab es ein geflügeltes Wort, welches die kommunistische Propaganda viel und gern verwendete: »Der Mensch steht im Mittelpunkt«. Und genau so fühlt es sich im Moment an. Nachdem zwei Jahrzehnte lang das Streben nach Materiellem - dem Auto, den Geldanlagen, dem Haus - meinen Tag bestimmte, gibt es heute eine Mitte, in der sich außer mir nur noch die befinden, die mir lieb und teuer sind. Und dabei ist es egal, ob wir gemeinsam am Tisch sitzend eine Rehkeule mit Thüringer Klößen vertilgen oder 20.000 km voneinander getrennt sind.

Meine simple Schlussfolgerung lautet, der Ort kann nur das unterstreichen, was ohnehin in uns ist. So wie ein guter Joint das tut. Auch er verstärkt lediglich unsere Empfindung - Positives zu »himmelhochjauchzend« und Schlechtes zu »zutodebetrübt«. Orte und Distanzen sind dabei zweitrangig.

Vor dem »Danny-Doolans« kommt gerade eine etwas größere Gruppe Touristen an - na bitte, geht doch. Trotz 26 Grad Weihnachten und der Riesenentfernung zur Familie genießen Katrin und ich die freie Zeit. 16 Tage Urlaub am Stück und das zudem bezahlt gab es für uns beide in den letzten 20 Jahren nicht mehr. Wir werden mit dem Campervan in der Natur übernachten und uns nach der Rückkehr unter die lärmende Menschenmasse im Pub gegenüber mischen. Das Leben ist schön!

Danke fürs Zuhören!
Jue