Samstag, 18. Mai 2013

Die Differenz zwischen null und eins


Analog und digital - zwei Begriffe, über die wir im IT-Zeitalter andauernd stolpern. Dank der Informationstechnologie eroberten beide in den letzten 20 Jahren einen festen Platz in unserem Wortschatz. Fast jeder kennt sie und manch einer hat sogar eine Idee, um was es sich dabei handelt. Für diejenigen und für die anderen ist dieser Text gedacht.

Aber keine Angst, es geht nicht um Bits und Bytes. Ich möchte lediglich ein paar Gedanken los werden, die mir zurzeit zwischen Bauch und Kopf hin und her kriechen. Und die haben nicht das Geringste mit Mathematik und Elektronik zu tun. Vielmehr steht das Leben im Mittelpunkt. Bevor ich jedoch darauf eingehe, müssen wir einen kurzen Blick auf die Bedeutung beider Worte in der Technik werfen.

Als analog bezeichnen wir, was ununterbrochen vorhanden und in Bewegung ist. Die geläufigsten Informationen dieser Art sind Töne. Sie lassen das Trommelfell schwingen und Selbiges erklärt dem Hirn, was da gerade aus dem Radio schallt. Ähnliche Botschaften bekommen wir über die Augen oder die Haut. Oberflächen nämlich reflektieren Licht in einer bestimmten Wellenlänge, die von deren Farbe abhängt. Diese Wellen erzeugen dann den eigentlichen Farbreiz auf der Netzhaut.  Daran liegt es auch, dass jeder Mensch sein eigenes Bild unterschiedlicher Farbnuancen hat. Es existiert kein eindeutiges Blau oder Rot sondern nur ein Abbild der Farbe, welches im Gehirn produziert wird.  Eindeutige Uneindeutigkeit eben, so wie vieles im Leben.

Nehmen wir ohne hinzusehen irgendetwas in die Hand, eine Frucht zum Beispiel, vermittelt eine ovale Form mit haariger Schale den Tastsensoren der Finger, dass es sich um eine Kiwi handeln könnte oder eine rundliche Gestalt mit glatter Oberfläche, dass es ein Apfel ist. Unterschiede lassen uns die Dinge erkennen. Und uns umgeben Unmengen solcher Zustände und Abläufe mit analogem Charakter. Meereswellen, der Wind, der Schlag unseres Herzens und noch vieles mehr. Die meisten sind unergründlich vielfältig und machen jeden Tag zu einem einzigartigen Spiel aus wunderbaren Eindrücken. Alles bewegt sich, schwingt, steigt, sinkt, lebt oder stirbt.

In meinen Augen ist das ganze Leben so gestrickt und hauptsächlich unsre Gefühle. Sie schwingen, wie Musik, manchmal heiter und aufgedreht wie ein Lied von Katy Perry, genauso oft aber auch schwermütig wie Mozarts Lacrimosa. Heute fließen Tränen und morgen springt jemand in Freudentänzen nackt mit einem Handtuch um den Körper durch die Wohnung. Dass, und all das dazwischen, ist, was wir sind - pure analoge Vielfalt.

Das Problem mit dieser Buntheit erwächst aus der boomenden digitalen Welt. Oberflächlich betrachtet scheint diese, unsre Möglichkeiten zwar fast ins Unermessliche zu steigern, schaut man jedoch genauer hin, passt sie immer weniger zum Alltag. Rechenmaschinen können so etwas wie vielschichtige Emotionen einfach nicht verarbeiten und schon gar nicht erzeugen. Sie sind das Reich der Nullen und Einsen und der fehlenden Zwischentöne.

Eine Melodie zum Beispiel zerteilt der Computer in unzählige Mikroschnipsel. Jedes Teilchen erhält einen festen Wert 0 oder 1, der klar und rein für eine einzige Aussage steht. Am Ende setzt die Maschine diese winzigen Sequenzen wieder zu einem Lied zusammen. Das Ohr nimmt die Zerstückelung nicht bewusst wahr, weil die Schnipsel zu klein sind. Als Ergebnis entsteht purer Sound ohne Fehler. Jedoch gehen die Nuancen verloren. Für Liebhaber sind es allerdings diese Details, die den Zauber von Musik ausmachen, genau wie es die Feinheiten des Lebens sind, die seinen Geschmack bestimmen. Nichts darin ist einfach schwarz oder weiß.

Aus diesem Grund müssen wir vorsichtig sein und der allgegenwärtigen Digitalität den Zugriff auf unsere Urteile, Ansprüche und Gewohnheiten verwehren. Es geht mir dabei nicht um Computerstürmerei. Im Gegenteil, sie sind großartig und ohne sie wäre vieles unmöglich. Ich plädiere lediglich dafür, die Art wie Computer arbeiten, mit JA oder NEIN, nicht zu unserer Art werden zu lassen. Davon sollten wir uns fernhalten, wenngleich ich weiß, wie schwierig das ist.

Der Mensch nämlich ist ein Gewohnheitstier. Das, womit wir uns täglich beschäftigen, wird Stück für Stück Teil von uns und des Alltags. So ist das auch mit dem Digitalen. Wir tun uns zum Beispiel zunehmend schwerer, Unvollkommenheit zu akzeptieren. 1 oder 0 bedeutet, du siehst tipptopp aus oder Scheiße - ab unters Chirurgenmesser. Wir streben ausschließlich nach dem großen, riesigen, unendlichen Glück. 1 heißt ja, du machst mich glücklich und ich bleibe bei dir, 0 - du bist raus. Es gibt weder Zwischentöne noch Kommastellen und keine Farben. Das geheimnisvoll Analoge des Lebens mit all seinen wunderbaren Feinheiten zerlegen wir zunehmend in die Perfektheit klarer ja und nein Zustände.

Voriges Wochenende durfte ich mich davon überzeugen, dass das Digitale nun auch in meiner Existenz angekommen ist. Sie liebt mich nicht mehr hat sie gesagt und das wir uns gegenseitig die Chancen nehmen. Und das sie glaubt von Eins auf Null stellen zu können. Als ich sie vor vier Wochen verabschiedete, war alles noch auf analog, mit Herz, Wärme und mit Liebe. So sah es zumindest aus. Ich hätte nie geglaubt, wie die winzige Differenz zwischen den beiden Ziffern schmerzen kann, und welche Hilflosigkeit 20.000km Abstand produziert.

»Was will ich?« frage ich mich seit dem ununterbrochen. Keine Ahnung, noch nicht jedenfalls. Was ich schon weiß ist, dass ich gut im Rechnen bin und auch im Distanzen überwinden. Und ich möchte analog bleiben mit Millionen unterschiedlicher Gefühle, mehr Kommastellen als die Kreiszahl Pi und mehr Farbtönen als eine Sommerwiese. Und ich wünsche mir sehr das meine Frau nicht plötzlich digital entscheidet. Irgendwie hoffe ich, dass wir uns alle eine große Portion Buntes und Phantasie bewahren. Weil so das Leben ist.

Danke fürs Zuhören und für dieses Mal traurige und trotzdem herzliche analoge Grüße aus Neuseeland sendet
Jürgen