Sonntag, 15. September 2013

German Angst

Gestern Abend stand ich mit einem Guiness in der Hand im Pub an der Ecke. Lautstark feuerte man die Rugbynationalmannschaft an. Diese zog wieder mal in einen Krieg. Diesmal ging es gegen Südafrika. Gänsehautstimmung! Der Sport und die Mannschaft der »All-Blacks« sind nationales Kulturgut, Droge und Scheidungsgrund und die unangefochtenen Helden eines jeden Kiwi.

Das Spiel begann wie immer mit einem Stück Maorikult. Dabei stampfen die Riesen einen Furcht einflößenden Tanz in den Stadionrasen und brüllen den Text des »Haka« genannten Spektakels ins Stadionrund. Der Gesang erzählt von Leben und Tod und dem großen haarigen Mann, der die Sonne besiegt und vor Kampfeskraft, Mut und Zuversicht nur so strotzt. Ich staunte, dass die armen Südafrikaner nicht schon angesichts dieses Gebrülls und der unzweideutigen Gebärden Reisaus nahmen.


Bevor ich wusste, worum es beim Rugby geht, vermutete ich zumindest eine gewisse Verwandtschaft zum Fußball. Die Wahrheit ist, ich habe mich getäuscht. Ballerinen a la Messi, Ronaldo und Co. hätten nicht die Spur einer Chance und würden mit ziemlicher Sicherheit auch nie in diesen Ring steigen. Es ist ein brutales Gemetzel, nur für die wirklich Mutigen. Gestern flickte der Feldarzt insgesamt vier der Recken am Spielfeldrand zusammen, einer von ihnen verlor einen Teil des Ohres.

Die »All Blacks« sind echt harte Knochen, denn Weicheier könnten das Treiben ohnehin kaum überleben. Das Spiel mit dem Lederei ist eben kein Sport bei dem man, dem olympischen Gedanken huldigend, versucht im fairen Wettstreit herauszufinden, wer der Bessere ist. Hier steht archaisches Männergehabe im Mittelpunkt - und Muskeln. Es wird mit brutaler Kraft gejagt und man wäre zur Not bereit zu töten. Die Gesten des Haka lassen daran nicht den geringsten Zweifel.

Auf die vielen Erfolge ihrer Krieger in den unzähligen Schlachten sind die Kiwis zurecht stolz. Daher sind Neuseeland und Rugby wie »Fish and Chips« in England oder wie Klöße und Soße in Thüringen. Gleichzeitig ist das Team das, was Brasilien im Fußball ist: die Mannschaft, die geschlagen werden muss, wenn man nach oben will. Es ist erstaunlich, mit welcher Konstanz aus dem kleinen Land immer wieder die besten Rugbymannschaften der Welt kommen. Seit mehr als 100 Jahren sind die »All Blacks« das Maß aller Dinge in diesem Sport.

Mit rund 4,5 Millionen entspricht die Zahl der Kiwis in etwa der Bevölkerung von Berlin einschließlich seiner Randgebiete. Um den Vergleich herzustellen, müsste man annehmen, dass Herta BSC im letzten Jahrhundert 15-mal Weltmeister geworden wäre. Beeindruckend, nicht wahr?

Nach der sehr ‚körperlichen‘ Unterhaltung vom gestrigen Abend ging es heute eher kopfig zu. Ich stolperte im WWW über einen Artikel in der Welt, der von den »Größten Ängsten der Deutschen« berichtete. Ganz am Anfang werden sie aufgezählt, die Schlafräuber der meisten Familienvatis und -muttis: steigende Lebenshaltungskosten, Naturkatastrophen, fehlende Pflege im Alter, schlechte Wirtschaftslage, schwere Erkrankungen, Überforderung der Politiker und Terrorismus. Eine beeindruckende Liste und die Botschaft stellt das genaue Gegenteil dessen dar, was ich gestern im Fernsehen sah.

Bis zu 70% meiner Landsleute kennen diese Gedanken und akzeptieren sie als häufige Begleiter. Die Aufzählung repräsentiert auch einen Teil dessen, was mich selbst lange um- und antrieb. Jahrelang mühte ich mich die Kriegskasse unserer Familie zu füllen, nur um totale Sicherheit zu erlangen und jenen Angstgefühlen die kalte Schulter zeigen zu können. Denn mit Geld haben sie alle zu tun. Sogar im Fall von Krankheit und Weltuntergang hilft ein dickes Bankkonto - dachte ich damals und strampelte mich ab. Doch das ist eine andere Geschichte. Hier geht es um diese allgegenwärtige Angst, die der Zeitungsartikel beschrieb.

Seit ich in Neuseeland lebe, verstehe ich die Sprache besser und bekomme eine Idee davon, wie wir Deutschen im englischsprachigen Ausland wirklich gesehen werden. Einige positive Assoziationen sind darunter. Willst du eine gute Engineering-Leistung, beschäftige einen deutschen Ingenieur. So sagt man und tatsächlich treiben sich etliche meiner Berufskollegenlandsleute hier herum. Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Genauigkeit und eine Menge weiterer »Tugenden« schreibt man uns zu. Ich könnte nicht behaupten, dass mich das bisher unangenehm berührte.

Ein geflügeltes Wort allerdings erstaunte mich. Geht es doch in eine so andere Richtung als das Bild, das wir selbst von uns haben und wie wir gesehen werden wollen. »German Angst« ist ein weitverbreitetes englisches Synonym für das, von dem der Artikel in der Welt handelte. Wir, die stolzen Nachfahren der tapferen Teutonen, fürchten uns und tun das offenbar schon so lange, dass sich international ein »Geschmäckle« herausbilden konnte.

Wir zittern vor dem Morgen und vor dem Neuen und am Meisten vor den Gefahren, die dort auf uns lauern. Dabei wohnen wir in der sichersten Gegend der Erde mit einem der höchsten Lebensstandards überhaupt. Selbst Harz IV Empfänger liegen mit ihrem Einkommen um den Faktor 12,5 über der UN Armutsgrenze. Die »German Angst« jedoch treibt uns an, zu arbeiten wie blöd und uns zu sorgen.

Dabei müssten wir doch aus der Geschichte gelernt haben, wie trügerisch die vermeintlich risikofreie Position sein kann. »No man is an island« hat der Dichter John Donne das vor langer Zeit mal genannt. Er meinte damit, dass niemand von uns isoliert vom Rest der Welt existiert oder kein Volk unabhängig von anderen Völkern. Beziehen wir in diese Überlegung die Unberechenbarkeit der Natur ein, sollte klar werden, was ich meine.

Ein Beispiel: Deutschland entfachte 1939 den Zweiten Weltkrieg, dem 60 Millionen Menschen zum Opfer fielen und nur für wenige der Überlebenden war hinterher noch irgendetwas wie vorher.

Ein weiteres: Die indisch-australische Platte der Erdkruste schiebt sich in der Andamanensee unter die eurasische. Das geschieht mit einer Geschwindigkeit von 7cm pro Jahr. Innerhalb von Jahrhunderten baute sich eine unglaublich große Spannung auf, die sich am 26. Dezember 2004 mit einem Schlag entlud. Das Ergebnis war ein Tsunami, der 230.000 Menschen unmittelbar tötete und für 1,7 Millionen sämtliche Lebensgrundlagen zerstörte.

Mehr gefällig? Am 9. September 2012 schaute ich zufällig gegen Mittag ins Internet und glaubte eine neue Hollywoodproduktion zu erleben. Ein Turm des World Trade Centers in New York stand in Flamen und unablässig wurden Bilder gezeigt, auf denen ein Flugzeug in die Fassade krachte. Kurz drauf kam das Zweite. Der Rest ist bekannt. Nicht nur ich war traumatisiert. Angesichts dieses Geschehens änderte sich das Leben für nahezu alle Menschen weltweit. Der Kampf zwischen Morgen- und Abendland, der christlichen und der islamischen Welt, zwischen östlichen Petrodollars und amerikanischem Traum hatte die nächste Dimension erreicht.

Globale Finanzkrise, Golfkrieg, Untergang der Exon Valdez, der Ausbruch des Vesuvs, der Pompeji vor 2.000 Jahren verschüttete, ein Meteoriteneinschlag vor 65 Millionen Jahren, der das Leben auf Erden völlig umkrempelte, indem er die Saurier von der Spitze der Nahrungskette ins Nirvana beförderte oder auch nur das unerwartete Ende einer Ehe. All das sind lebenslenkende und -verändernde Geschehnisse.

Neuerdings kommt eine Zufalls- und Risikokategorie hinzu, die erst wenige wirklich wahrnehmen. Computerprogramme verselbstständigen sich und verursachen eine neue Art unvorhergesehener Katastrophen. Die Börsen zum Beispiel fallen urplötzlich mit atemberaubender Geschwindigkeit ins Bodenlose. Einzige Erklärung: automatischer Computerhandel zwischen hyperkomplexen Systemen. Und das passiert genau dort, wo der Großteil unseres materiellen Besitzes permanent hin und her gewälzt wird. In Sekundenbruchteilen werden so unglaubliche Werte vernichtet.

All das sind Zufälle, menschengemacht manche davon, jedoch verhinderbar kaum einer. So wie die Katastrophen selbst ist das ganze Leben - Fügung, Schicksal, göttlicher Wille oder eben Zufall. Sowohl seine Entstehung als auch sein Ende und ebenso sein Verlauf - soviel steht für mich fest. Und dieser unberechenbarste aller Zustände, beherrscht und prägt die Welt nicht erst seit Menschen gedenken.

Die Frage ist, was sich für die 3.000 Opfer von 9/11 geändert hätte, wenn sich 70% von ihnen um die fehlende Pflege im Alter geängstigt hätten? Wie viel besser wäre es den 30.000 Einwohnern Pompejis ergangen, wenn zwei Drittel von ihnen sich wegen der schlechten Wirtschaftslage im Römischen Reich die Schädel zermartert hätten. Mich würde auch interessieren, ob die Saurier ums Aussterben herum gekommen wären, falls sie einen Meteoriteneinschlag hätten fürchten können, und dies tagtäglich stundenlang getan hätten? Blödsinn sagst du? Genau!

Es gibt also gute Gründe die Angst, als Bullshit aus unseren Leben zu verbannen. Es gibt Gründe sich weder um das Morgen noch darum, ob die Politiker ihrer Verantwortung gewachsen sind zu sorgen. Zum einen passieren diese schicksalsprägenden Katastrophen und Kataströphchen sowieso, mit und ohne Befürchtungen und Beklommenheiten unsererseits. Und zum anderen kommen die wahren Bedrohungen woanders her.

Die meisten Völker sind deutlich weiter von den graulichen Eventualitäten die auf uns lauern entfernt als wir Deutschen. Sie gehen gelassener mit den täglichen Existenz- und Lebensgefahren um. Darum schafft auch ihr, zu Hause im schönen, sicheren und reichen Deutschland die Sorgen ab. Lebt und genießt die Tage. Was morgen kommt, ändert ihr sowieso nicht. Weder mit Angst noch mit Jammern. Seid locker wie die »All-Blacks« und mutig wie die verprügelten Südafrikaner. Falls nötig könnt ihr euch ja mit einem Haka Mut machen. Eine Anleitung gibt‘s online. Die »All-Blacks« jedenfalls gewannen gestern 29:15.

Vielleicht macht das Leben dann wieder mehr Spaß und der nächste Artikel in der Welt berichtet von den »größten Freuden der Deutschen«. Und wenn wir es ganz richtig machen, finden wir in einer künftigen Ausgabe des Oxford Dictionary den Begriff »German Mut« gleich unter »German Angst«. Schön wär‘s.

Danke fürs Zuhören!
Jürgen