Dienstag, 3. September 2013

Es ist nicht der Ort

Juli 76 - ich sitze als 12-Jähriger im vollen Nachzug Richtung Ostsee - allein. Die Reise startete gegen 9 am Abend und nun bummeln wir gelassen der Küste entgegen. Ringsum krähen Kinder. Muttis verteilten mitgebrachtes Essen auf geschirrtuchbedecken Fensterbrettern und Väter lassen Schnapsflaschen kreisen. Der ausgelassenen Stimmung merkt man an, dass die meisten sich auf dem Weg in den Urlaub befinden.

Weil ich an den DDR-Meisterschaften im Volleyball teilnahm, fuhren meine Eltern vor ein paar Tagen schon mal voraus in ihren, respektive unseren Jahresurlaub. Haarklein hatten wir die Einzelheiten meiner Nachreise zigmal geplant. Immer wieder fragte meine Mutter ‚Du hast doch keine Angst, oder?'
Dabei war sie es, die sich sorgte. Ich war o.k. und freute mich, endlich mal so ganz allein unterwegs zu sein. Zur Abfahrt trauerte ich noch der Niederlage im Spiel um Platz 3 nach. Die wachsende Aufregung jedoch verdrängte die Traurigkeit und im Abteil beruhigte sich langsam alles. Erwachsene sprachen leise, um die Kinder nicht zu stören. Manche schliefen schon. Ich sollte das ebenfalls tun, so war es ausgemacht. Extra dafür bekam ich einen Wecker in meinen Rucksack, damit ich auf keinen Fall ‚verschlafe‘. Schlafen - wenn das so einfach wäre.

Ich sitze also am Fenster und draußen zuckelt die Landschaft im Takt der Schienenstöße vorbei. Das Licht aus dem Zug beleuchtet einen kleinen Streifen Natur entlang der Gleise. Der Rest verschwindet in sanfter Sommerdunkelheit. ‚Ich bin unterwegs‘, denke ich und ‚so ist es erwachsen zu sein‘. Es fühlt sich großartig an.

Mein Blick geht in die dunkle Weite und nach einer Weile begebe ich mich auf große Fahrt. »Die Gedanken sind frei« heißt es in einem Volkslied und meine scheinen in dieser Nacht herausfinden zu wollen, was das bedeutet. Durch die Dunkelheit machen sie sich mit Amundsen auf zum Südpol, wandern mit Tom Sawyer den Mississippi flussaufwärts und besuchen Robinson Crusoe auf seiner Tropeninsel. Die Helden meiner Kindheit bereiten mir aufregende Stunden und die schemenhaft dahinziehende Landschaft liefert die perfekte Traumkulisse.

Am Ende der spannenden Finsternis passiert, was ich seit dem nicht mehr aus dem Gedächtnis bekomme. Auf irgendeine Weise hat es sogar mein Leben geprägt. Weit entfernt zeichnete das Morgenlicht nun behutsam einen Horizont und beendete so die Nacht. Ein Anflug von Orange liegt auf dem hellgrauen Streifen. Übernächtigt starrte ich in diese Richtung und spürte das die Welt, in der sich all die fantastischen Dinge aus meinen Träumen abspielen, vor mir liegt. Verlockend erscheint dieser Gedanke unter den immer noch funkelnden Sternen. Die Sonne, die da gleich auftauchen wird, verschwindet in diesem Moment irgendwo in der Südsee. Hier versetzt sie bald alles in Betriebsamkeit  und die anderen Reisenden und ich werden heute unser Urlaubsziel erreichen. ‚So beginnt also ein Tag‘ denke ich.

In dieser Nacht zog die Ferne mich in ihren Bann. Leise und unspektakulär geschah das, dafür nachhaltig. Jedes Mal wenn ich seit dem an Orte komme, die mit Reisen im Zusammenhang stehen, zieht es in meinem Bauch und drückt im Herzen. Bahnhöfe, Züge, Flughäfen und sogar Autobahnparkplätze erzeugten dieses Empfinden. 1976 war mir nicht klar, was mich so wunderbar berührte und mir diese Glückseligkeit einpflanzte. Ich nahm es immer als eine Art Sehnsucht wahr, die unstillbar blieb. 

Mein Heimatland, die Heimat des ‚real existierenden Sozialismus‘ und der Wunsch nach der Ferne gingen nun mal gar nicht zusammen. Nicht, dass mir das in irgendeiner Weise permanent bewusst gewesen wäre. Ich wuchs im Käfig DDR auf und akzeptierte das scheinbar. Ein akutes Problem jedenfalls hatte ich mit der Mauer nicht. Innerlich hinterließ die Situation offenbar trotzdem Spuren. Ich denke, dass es viele so erlebten, zu jener Zeit, jedoch nur wenige drüber sprachen. Wenn mich heute jemand fragt, was ich aus der DDR mitnahm, dann weiß ich immer eine Antwort: Fernweh.

Als ich in Güstrow ankam, schien die Sonne. Meine Eltern standen auf dem Bahnsteig und ich war erleichtert. So richtig selbstständig fühlte ich mich wohl doch noch nicht. Dafür hatte diese Reise eine Menge verändert. Die Träumereien, die Gedankenreisen zu fernen Zielen, entfachten ein Gefühl, für das ich damals keinen Namen kannte. Es war dieses unterwegs sein, das Unbekannte, diese Idee von Freiheit und Unendlichkeit. Mag sein, ich interpretiere da etwas zu viel hinein, schließlich war ich erst knapp 13. Aber fakt ist, dass seit dieser durchwachten Nacht im Zug, ein Drang in mir ist, der mein ganzes Leben irgendwie zu beeinflussen scheint.

Vor zwei Jahren dann gab ich der Sehnsucht nach und ging zusammen mit meiner Frau auf eine Reise, von der wir weder wussten, wo sie uns hinführen wird, noch wie lange sie dauern soll. Etliche Menschen träumen von solch einem Aufbruch. Wenige können es und fast niemand tut es am Ende tatsächlich. Es ist einzigartig, beängstigend, aufregend, gefährlich und zugleich Vertrauen stiftend, macht verliebt und entliebt und es ist etwas, dass man so nur einmal erleben kann. Beim ersten Mal.

Unterwegs stellte ich fest, dass reisen anstrengend ist. Zumindest wenn man es betreibt, wie wir es taten, als Rucksacktouristen. Ich konnte allerdings in Ruhe mein Fernweh stillen. So ausgiebig, wie ich es mir selbst in den kühnsten Träumen nicht vorgestellt hätte. 60.000 km sind wir gereist. Meist mit dem Flugzeug, aber auch viel mit Bussen und der Eisenbahn. Ich saß auf Borneo 6 Stunden im Bus auf einem Sitz ohne Rückenlehne. Die Straße bestand lediglich aus Schlaglöchern. Auf einem Flug für 13$ mit einer Airline namens »whings of love« saß ich an der Tür, die mit einem Strick zugebunden war. Durch den Türspalt sah ich die Wipfel des Regenwalds, über den wir flogen. In einem Schlafwagen der thailändischen Staatsbahn lagen wir eine ganze Nacht bei kaputter Klimaanlage und 12°C in kurzen Hosen. In Saigon wurden wir am hellerlichten Tage überfallen. Auf der Golden Gate Bridge baute ich fast einen Unfall, weil ich vor lauter Tränen kaum etwas sah.

Diese und unzählige weitere Abenteuer veränderten mein Leben derart, dass ich heute allein in Neuseeland wohne und für eine gemeinnützige Organisation arbeite. Ich hatte bestimmt nicht erwartet, dass das passiert. Aber es ist ein Resultat und somit Teil der Lektion. Der Drang nach der Ferne, mein Fernweh bleibt mir wohl erhalten. Es geht nicht weg. Entweder man hat es oder eben nicht. Jedoch hat es sich gewandelt. Es ist ein Gegenpol hinzugekommen. Die Sehnsucht nach Geborgenheit und Heimat, Freunden und Familie in greifbarer Entfernung. Und langsam bekomme ich eine Idee, wie ich damit umgehe.

Das Allerwichtigste aber könnte sein, dass ich begriffen habe, dass all das Großartige, nicht mit einem bestimmten Ort zusammenhängt, sondern mit dem Erleben. Mit dem unterwegs sein. Die tollsten Orte der Welt boten nur für kurze Zeit Zerstreuung und was einem dort begegnet, ist nicht das Leben. Es ist der Ausnahmezustand, den meine Frau und ich leider zu lange zu unserer Art des Daseins erklärten. Selbst die unglaublichsten Plätze vermochten das Fehlen einer Wohlfühlbasis nur sehr begrenzt auszugleichen. Nicht sicher, ob das für alle von uns gilt. Mir jedoch ist glasklar zu Bewusstsein gekommen, »Es ist niemals der Ort, der dich glücklich werden lässt, oder etwas ändert. Es bist immer du.« Hätte aber 1976 in jenem Nachtzug jemand versucht mir klarzumachen, dass ich überhaupt einmal so etwas erleben würde, ich hätte gelacht und an den Mississippi gedacht.

Danke fürs Zuhören
Euer Jürgen