Auftauchen und verschwinden sind zwei Seiten derselben Medaille. Vieles einstmals Wichtige verlieren wir aus unterschiedlichen Gründen aus den Augen. An seine Stelle tritt oft etwas, von dessen Existenz wir bis dahin nichts ahnten. Vom Alten bleiben Abdrücke, die ich Lebensbeulen nenne - meistens jedenfalls - manchmal aber auch weniger - eine Erinnerung vielleicht nur. Um die Hinterlassenschaften herum taucht ab und an auf einen Schlag Neues auf, ist plötzlich da und füllt leer gewordene Räume.
Ich erinnere mich, als meiner Tochter einst ihr Nuckel abhandenkam. Sie liebte ihn, brauchte ihn, konnte ohne ihn nicht sein. Das kleine Teil verschwand auf einer langen Autofahrt. Ich suchte das gesamte Auto ab, jedoch er war nicht mehr da. Verschwunden. Obwohl wir noch nicht angehalten hatten. Keine Ahnung wie das ging. Das Ergebnis war anhaltendes Jammern gefolgt von herzzerreißendem Geschrei. Es war an einem Sonntag und so ließ sich nicht mal Ersatz beschaffen. Jule verdaute den Verlust trotz des übergroßen Schmerzes. Der am nächsten Tag gekaufte Nachfolger erfüllte denselben Zweck. Eine erinnerungswürdige Reise und bis heute ein Rätsel. Wie löste sich ein Schnuller in Luft auf?
Bei Menschen ist das anders. Hier bleibt etwas, trotzdem wir sterben und so aufhören zu existieren. Als meine Oma in einem Altenheim starb, war sie die erste Tote, die ich sah. Sie lag auf ihrem Bett und ich verstand in diesem Augenblick, warum viele an die Existenz einer Seele glauben. Omas Wärme, ihr Geist, dass, was sie ausmachte, war verschwunden. Was blieb war wächserne, steife Kälte und Traurigkeit bei denen, die nun ohne sie auskommen mussten, aber auch liebevolle Erinnerungen. So ist es nun mal, das Leben. Wir werden geboren, um uns an dieser letzten Destination zu verabschieden. Es fühlte sich für mich an, als ob Oma uns zu verstehen gäbe, »Ich bin fertig hier, mehr kann ich nicht beisteuern.«
Mein wichtigster Jugendfreund, der eine, mit dem man alles teilt und 97% der Zeit des Erwachsenwerdens verbringt, kam mir während des Studiums abhanden. Er hatte eine Freundin, die er bald heiratete und offenbar tat ich ihm nach ihrer Ansicht nicht gut. So löste sich unsere superenge Freundschaft langsam auf. Für Jahre gab es keinen Kontakt. Wir wussten kaum, was der andere trieb und ehrlich, irgendwie war es nicht mehr von Bedeutung. Anlässlich eines Seminargruppentreffens, bei dem er sich ausklinken wollte, besuchte ich ihn um ihn zur Teilnahme zu überreden. Als wir sprachen, merkte ich, wie ich ihn vermisst hatte. War eine schöne Erkenntnis und heute sind wir lose, aber regelmäßig in Verbindung und es fühlt sich jedes Mal gut an.
Eine weitere Art des Verschwindens erlebte ich im April dieses Jahres. Ich hatte meine Frau nach Europa geschickt. Dort sollte sie einer erfüllenden Beschäftigung nachgehen, bis sie die Genehmigung erhielt, hier in Neuseeland zu arbeiten. Ihr fiel ohne Job einfach die Decke auf den Kopf. Nach Kurzem teilte sie mir aus 18.000 km Entfernung mit, dass sie ab sofort Single sein will.
Es kam nicht überraschend. Eine riesige Menge war passiert in der zurückliegenden Zeit. Irgendwie hatte ich daher damit gerechnet. Sie sagte, dass sie mich nicht mehr liebt, was ich akzeptieren konnte. Als sie jedoch davon sprach, dass sie sich in den 13 Jahren mit mir nur etwas vorgemacht habe, brach für mich eine Welt zusammen. Denn sie war nicht nur meine Frau und Geliebte. Sie war mein bester Freund und oft mein Komplize im Gefecht des Lebens. Sie war mir vertraut und nahe wie niemand anderes auf Erden.
Die wahre Bindung zu ihr wurde mir erst nach der Trennung klar. Es war grauenvoll und das Schlimmste, das ich in fast 50 Jahren auszuhalten hatte. Sie wollte Single sein, ich sie nicht verlieren. Und doch musste ich erleben, wie sie verschwand. Gründlich, unrückbringbar, endgültig.
Heute ging ich an einem Gewässer entlang. Es regnete und ich beobachtete, wie der Regen ringsum in der Erde versickerte. Dabei blieb etwas zurück. Feuchtigkeit und Energie für Pflanzen und damit ein Stück Boden, der plötzlich fruchtbar war. Die Tropfen, die in das Rinnsal fielen, verschmolzen hingegen im selben Augenblick, kleine Kreise hinterlassend mit der Wasseroberfläche. Sie wurden Teil des Ganzen und waren nicht mehr auffindbar. So fühlt sich das Ende einer Liebe an. Es bleiben zwar die Beulen in der Karosse des Lebens, der ehemalige Partner allerdings verschwindet wie ein Regentropfen im Fluss. Man weiß lediglich er ist noch da, das ist alles.
Dieses Verschwinden aber schafft Raum, lässt Luft und Licht an Stellen, die lange verdeckt im Dunkel vor sich hin moderten. Unterdrückte Interessen tauchen wieder auf, Leidenschaft, die ich gestorben glaubte und neue Menschen und mit ihnen eine geänderte Sicht auf die Dinge. Plötzlich nehme ich von allein wahr, um was ich früher vergeblich gebeten wurde. Komisch. Und so traurig ein Schluss, ein endgültiger Abschied auch ist, tönt es doch immerzu in mir »Hallo Leben, hier bin ich.« Und das Leben antwortet »Großartig, mach was aus mir.«
Danke fürs Zuhören
Euer Jürgen