Samstag, 16. November 2013

Ich weiß nicht, ob es besser wird



Niemand kann sagen, wie alt die Kapelle am Wegesrand ist. Angeblich errichtete ein Dankbarer sie der Heilgen Korona, die hier im zarten Alter von 16 Jahren ermordet wurde. Weshalb man die gemeuchelte Jungfrau zur Schutzpatronin der Glücksspieler erkor, darüber schweigen die Annalen. Lange schon redet man in der Gegend davon, dass mit der Dame auf ihrem Sockel etwas nicht stimmt. Die Menschen tuscheln, dass sie Wunder täte. Wer dies jedoch laut sagt, wird ausgelacht.

Immer sonntags zur gleichen Stunde betritt ein Landstreicher den winzigen Kirchenraum. Er betet still vor sich hin, wobei die Märtyrerin lächelnd auf ihn herab sieht.


Der abgerissene Strolch hatte von dem Wundergerede gehört und meinte, dass es nützlich sein könne der Kapelle regelmäßig einen Besuch abzustatten. Vielleicht ... und ... wer weiß? ...

Zum Schluss seiner Andacht erhebt er jedes Mal flehentlich die Stimme: »Bitte liebe Heilige, bitte, bitte, mach das ich das große Los in der Lotterie gewinne. Bitte, bitte, bitte.« Die letzten drei Worte winselt er in den Raum als wolle er Korona aus ihrer hölzernen Starre erweichen. Wohl hundertmal schon vollzog er diese Prozedur. Heute aber schien es ihm, wie wenn die Dame genervt ihr Gesicht verzog, als er sein Flehen begann. »Oh!« denkt er. Und »Warte nur, dich krieg ich« murmelnd, zieht er aufgeregt von dannen.

Am nächsten Sonntag, just als er die Stimme zum »Bitte liebe Heilige, ...« erhebt, vernimmt er ein zartes Räuspern. Niemand sonst ist da und Selbstgespräche führt er nicht, dass weiß er genau. Damit ist klar, Korona nimmt ihn wahr. Warum aber schaut sie so kritisch? Egal - sie würde ihm helfen, dessen war er sich sicher. Jede Woche steigert er nun die Inbrunst und von Mal zu Mal reagiert die Statue einen Funken mehr.

An einem Dezembertag - der Landstreicher ist hungrig und friert - schmettert er seine Bitte wie im Rausch in den Raum. Er fleht die Heilige an, schreit diesmal fast, wirft sich auf den eiskalten Boden und bleibt erschöpft liegen. Die Jungfrau ändert ihren Blick von Lächeln in leicht genervt. Wieder einmal. Weiter nichts. Im Aufbrechen geht es unserem Freund durch den Kopf, dass diese ganze Fleherei doch für die Katz ist. Er wird es wohl künftig bleiben lassen.

Gerade als er die schwere Tür hinter sich schließen will, vernimmt er plötzlich eine Mädchenstimme. Er zuckt zusammen. Sie ruft ihn beim Namen. Niemand weiß, wie er heißt, wie ihn seine Mutter rief. »Das kann nur die Heilige sein« denkt er. Sie hilft ihm. Endlich! Aber was ist das? Ihre liebliche Stimme fleht, ähnlich der seinen »Bitte lieber Landstreicher, bitte, bitte, kauf dir endlich ein Los für diese verdammte Lotterie. Bitte, bitte, bitte.«

An dieser Stelle wüsste ich für mein Leben gern, was du fühlst. Schmunzelt es in dir wegen des Witzes, der in der Story steckt, oder denkst du: »Ist der doof! Sogar die Mächte des Himmels wollen ihm beistehen, er jedoch bleibt im irdischen Jammertal hocken. Nichts tut er, der arme Tropf, außer um die Erfüllung seines Traumes zu flehen.« ... oder so ähnlich.

Ich musste zuerst lächeln, als mir jemand diesen Joke erzählte. Später kam ich allerdings ins Grübeln. Ich überlegte, ob ich nicht selbst oft so ein Landstreicher war. Die Antwort darauf ist leicht und sie lautet: JA. Die Chance taucht auf, man greift halbherzig zu, manchmal aus Angst auch gar nicht und schon ist sie vorbei. Dann kommt die Erkenntnis, mit ihr die Reue und mit der Reue der Konjunktiv: »Hätte ich doch ...«.

Diese Woche tat ich, was der Landstreicher stets vergaß. Ich kaufte das Los. Nach einem Jahr und zwei Tagen kündigte ich den gut bezahlten und stressarmen Job in einem sonnigen Büro in Auckland. Ich tat es, weil es Wichtigeres gibt, als das bisschen Sicherheit und die Ruhe, die von vierzehntägigen Geldeingängen auf dem Konto ausgeht. Ich tat es, weil der Platz, an dem ich mich befand, nicht meiner war. Ich tat es, weil alles bleibt, wie es ist - wenn man nichts ändert. Und ich tat es, weil es dumm ist, ohne Los auf einen Gewinn zu hoffen.

Georg Christoph Lichtenberg, der Begründer des deutschen Aphorismus, sagte einmal: »Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird, aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll.«
In diesem Sinne ... Schaumermal.

Danke fürs Zuhören
Jürgen