Sonntag, 15. Dezember 2013

Von Reichtum und Liebe

Heute Morgen um kurz nach sechs startete ich zu einem Läufchen. Vor der Tür stelle ich fest, dass Ekelwetter herrscht. Böiger Wind stiebt Nieselwolken durch die leeren Straßen des Stadtzentrums. »Egal« denke ich und laufe los. Zuerst passiere ich die City Mission, eine Einrichtung, die wir in Deutschland als Suppenküche bezeichnen würden. Danach kommt eine kleine Kalksteinkirche. Als ich dorthin schaue, muss ich für einen Moment innehalten.



Im überdachten Eingang liegt eine dünne Matratze, darauf eine zierliche Frau, die eine schmutzige Decke über sich zieht. Ihre dunklen Augen blicken aus einer schwarzen Mähne. Dicht an sie gekuschelt schläft ein menschlicher Koloss, wie sie vorzugsweise auf den nahen Südseeinseln heranwachsen. Er hält sie im Arm und sein Gesicht verschwindet in ihrer Haarpracht. Wegen der riesigen Gestalt wirkt seine Umarmung wie ein verlässlicher Schutz und trotzdem liebevoll, fast zärtlich. An der Wand hinter den beiden türmt sich ein Berg aus Koffern. Auch ihn schützt der Hüne mit seinem massigen Körper.

Sie, obwohl gerade aufgewacht, nimmt seine Schwere wahr und den Kopf in ihrem Nacken. Und sie weiß, dass sie im Windfang einer Kirche liegt, wo der feine Regen hin stiebt und die Decken durchfeuchtet. Wahrscheinlich denkt sie darüber nach, wie sie bei diesem Wetter ihre Habseligkeiten trocknen soll. Trotzdem strahlt sie ein warmes Lächeln in den grauen Morgen. Auch wenn es unter den Umständen seltsame anmutet, sie scheint glücklich zu sein.

Sein hochgerutschtes Shirt gibt den Blick auf einen braunen Riesenkörper frei. Beeindruckend tätowiert und massig, eigentlich fett. Trotzdem wirkt er athletisch, wie ein Krieger, der seine Frau selbst im tiefen Schlaf behütet und nichts von der Unbill der Welt an sie heranlässt. Und sie vertraut ihm und genießt diesen Brocken in ihrem Rücken als etwas, an das man sich anlehnen kann, dass Halt bietet und Schutz. Als sie bemerkt, dass ich zu ihnen hinüber sehe, lächelt sie mich an. Ich fühle mich ein bisschen wie ein Voyeur, lächele aber gerührt zurück. Dann laufe ich weiter.

»Islander« nennt man die dunkelhäutigen Menschen aus den Paradiesen der Südsee hier in Neuseeland, wo etliche am unteren Ende der Gesellschaft leben. Tahiti, Samoa, Fiji, ... So exotisch die Namen klingen, so groß sind die Probleme dort. Immer mehr der Insulaner zieht es hierher, wo die Annehmlichkeiten des Westens locken. Auch fliehen sie vor den Auswirkungen der Klimaveränderung. Vanuatu zum Beispiel ist der erste Staat der Welt, welcher in weniger als zwanzig Jahren von den Landkarten gelöscht werden kann. Dann wird das Meer sich die Inseln komplett zurückerobert haben. Zudem fehlt der Fisch, der den Menschen für Jahrtausende als Nahrungs- und Einkommensquelle diente. So fliegen viele Hoffnungsvolle für Geld, dass sie eigentlich nicht haben, ins Gelobte Land. Bei den meisten macht sich schon nach kurzer Zeit Ernüchterung breit, weil der Reichtum zwar vor ihren Augen, nicht aber in ihren Taschen ankommt. Oft verwahrlosen sie daher und steigern die Kriminalstatistiken des einst so friedlichen Neuseelands.

Um so bemerkenswerter schien mir dieses Pärchen. Die Wärme ihres Anblicks begleitete mich den ganzen Tag und ihr Lächeln drang mir ins Herz. Jedoch bekam ich beim Weiterlaufen auch ein schlechtes Gewissen. Meine neuen Laufschuhe waren wahrscheinlich mehr wert, als ihr gesamter materieller Besitz. Während des Laufes fragte ich mich, warum diese Menschen nicht die gleiche Chance auf ein Leben unter zumindest annähernd den Bedingungen haben, wie wir Westler. Natürlich stellt sich diese Frage nicht nur für die Armen hierzulande. Sie gilt für die Welt, West wie Ost, Nord wie Süd. Denn soviel ich gereist bin, sah ich doch fast überall bittere Armut.

Dazu fällt mir ein Artikel ein, den ich vergangene Woche im Leuchtturmorgan der freien Presse Deutschlands fand. Bild berichtete, reißerisch wie immer, dass es aktuell mehr als 12 Millionen Dollar Millionäre weltweit gibt.
12.000.000 x 1.000.000,- = 12.000.000.000.000,- $
Zwölf Billionen ergibt das Aneinanderreihen der Nullen, unterstellen wir jedem der Wohlhabenden nur ein lächerliches Milliönchen. Mit einem Bruchteil dessen könnte man zum Beispiel die Verschuldung der südeuropäischen Staaten, die uns alle ja angeblich ins Verderben stürzen kann, beseitigen. Wobei ich das für sinnlose Verschwendung halte.

Sinnvoll hingegen ließe sich mit 5% des Mammons die Not der 870 Millionen Hungernden auf der Welt dauerhaft lindern. Und schon für weniger als 1% brauchten 8,8 Millionen jährlich nicht mehr zu verhungern. Ja, 8,8 Millionen von uns Menschen, der Rasse, die sich aus dem Tierreich erhob, von uns, den intelligentesten Lebewesen des Planeten, verhungert jedes Jahr.

Freilich ist die Verwendung des schwer erarbeiteten privaten Besitzes, zur Linderung von fremdem Leid, keine praktikable Lösung. Die allermeisten derer, die schlau, geschickt oder glücklich genug waren, ein Vermögen anzuhäufen, würden es so leicht nicht hergeben, was ich irgendwie verstehen kann. »Homo homini lupus« - der Mensch ist des Menschen Wolf - wie der römische Dichter Plautus schon vor über 2.000 Jahren feststellte.

Eine Schlussfolgerung aus meinen Überlegungen ist: Wir zerbrechen uns die Köpfe, wie wir die Welt überlebensfähig machen, wie wir unseren ökologischen Fußabdruck reduzieren und Energie sparen, um die Erderwärmung zu stoppen. Und ich war ein strammer Verfechter dieses Strebens. Mittlerweile, nachdem ich den Erdball umreist und viele Probleme auf ihm live erlebt habe, denke ich, dass es einen Punkt gibt, den wir dabei vergessen. Ich meine die gesellschaftliche Nachhaltigkeit. Ich meine, wie lange lassen sich die 880 Millionen Hungernden und Bettler der Erde ihren Status noch gefallen?

Brecht dichtete einmal: »Armer Mann und reicher Mann standen da und sah´n sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.« Er hatte recht, der Berthold. Und ich glaube, dass wir für dieses Problem eher eine Lösung brauchen, als für die untergehenden Inselchen und verschwindenden Ministaaten. So tragisch das ist, reicht es in der Konsequenz doch bei Weitem nicht an das heran, was aus der immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Erster und Dritter Welt erwächst.

Die zweite Schlussfolgerung haben mich die beiden Südseeinsulaner im Kircheneingang gelehrt. Es braucht nicht viel, um zu lächeln. Der Mensch ist nicht nur der gierige Wolf, sondern auch genügsam, wenn er glücklich ist. Und Glück kommt nicht von Reichtum, wie Glücksforscher längst bewiesen haben. Es wächst aus Wärme und Menschlichkeit, Vertrauen, Achtsamkeit und Zuwendung und aus der Liebe. Und das ist meine Hoffnung.

Danke fürs Zuhören
Jürgen