Donnerstag, 13. März 2014

Weniger

Wegen einer dringenden Familienangelegenheit reiste ich vorige Woche überstürzt aus meiner temporären Wahl-(Weil-Billig-)Heimat Indonesien nach Deutschland. Natürlich bedauerte ich das zuerst, aber wo Schatten ist, scheint bekanntlich auch die Sonne. Schon heute Morgen entdeckte ich sie, als ich bei wundervollem Wetter einen Spaziergang mit meiner Tochter unternehmen durfte. Wir liefen zwei Stunden gemächlich der Wismarer Bucht entlang - Wohlfühllachen bei erwachsenen Mädchen, Zuckerbrot für Papas und gesund für beide sowieso.

Unterwegs diskutierten wir, was dem Menschen und der Menschheit gut tut und was ihnen schadet. Ich ritt etwas derb meinen neuen Schimmel namens »einfach Leben«. Das niedliche kleine Pferdchen steht für die Idee der Besserung durch Reduzierung und dafür, dass jeder von uns weniger verbrauchen muss, damit mehr für alle da ist. Dann zählte ich Jule meine »Pain Points« auf. Das sind die Themen, bei denen es schmerzt, sobald sie auf meinem Schirm auftauchen. Sie reichen von der Zerstörung der Erde über Hunger und Wassermangel bis hin zur ungerechten Verteilung sämtlicher irdischen Güter. Mein Töchterchen meinte, »Ja Papa, du hast gut reden. Wasser predigen und Wein saufen.« OK, ganz so derb sagte sie es zwar nicht, jedoch ihre vorsichtige Anklage ging genau in diese Richtung.

Nach unserer Morgenwanderung frühstückten wir noch gemeinsam und machten uns dann ans Tagwerk. Sie lief zur Uni und ich betrat Behördenflure. Allein dieses Thema würde einige bitterböse Blogs füllen. Da meine Wut mittlerweile aber wieder verflog, erspare ich dir meine Schimpftiraden. Was mir beim Warten auf den tristkalten Gängen allerdings im Kopf herumging, war Jules geschickt verpackte Kritik an mir und dem, worüber ich erzählt hatte. Ja, natürlich hat sie recht. Was sie weiß ist, dass ich zuletzt einen guten Job in Neuseeland hatte, dass ich auch vorher nie kleine Brötchen buk, sondern die dicken und manchmal sogar die saufetten. Wie soll sie die Wandlung meiner Denke also deuten? Ist Papa verrückt geworden, oder gar grün?

Nichts von beidem. Das Einzige, was passierte ist, dass ich Langsamkeit schätzen lernte. Und ich begriff, dass weniger »im« Leben, in Wirklichkeit mehr Leben bedeutet. Das ist die Lektion der letzten Jahre, in denen ich mich vom Business-Menschen oder Homo oeconomicus, zum Menschen entwickelte. Rückentwickelte - mag mir der entgegenhalten, für den den es einen Verlust darstellt, kein Haus mehr zu besitzen, keine Designeranzüge mehr zu tragen, kein fettes Auto mehr zu fahren, oder nicht mehr 20 Mal pro Monat in Restaurants zu essen. Tatsächlich verschwanden fast alle meiner früher als Annehmlichkeiten empfundenen Lebensinhalte.

Denke ich jedoch an die Zeit, als ich wochenlang sprachlos in einer Klinik saß, oder an unendliche Kundentermine Sonn- und Feiertags ändert sich das. Auch schlaflose, schweißgebadete Nächte fallen mir ein und Angst vor der Zukunft und Reue über Fehler der Vergangenheit. All das ist heute ebenfalls verschwunden. Es machte Platz für Spaziergänge mit dem Kind, für Familie und Diskussionen mit Fremden bis in die Puppen, für Bücher, Filme, Bloggen und jede Menge Menschen, die ähnlich denken wie ich. Die gibt es nämlich, überall auf der Welt. Noch ist es ungewohnt, und ich habe ein bisschen Schiss vor dem Wiedereinstieg ins Erwerbsleben. Auf dem Arbeitsamt jedenfalls sah man mich ungläubig an, als ich nach einem Halbtagsjob oder einem ohne Verantwortung fragte. Aber ich glaube, mit diesen Blicken kann ich leben.

Das alles heißt nicht, dass ich als Bierzapfer zu enden gedenke. Nein, irgendwann werde ich wieder etwas tun, dass meiner Erfahrung und Qualifikation entspricht und als Vollzeitbeschäftigung zählt. Es heißt jedoch, dass ich mir Zeit lasse, bis das Richtige kommt. Und im Moment ist das nun Mal das Schreiben. Anderes müsste sich genauso gut anfühlen, um in Betracht zu kommen. Und ich schwöre hier offiziell, dass ich nicht verrückt geworden bin, nur wach. Ich beschloss nicht mehr zu sein, um zu arbeiten, sondern das Ganze anagrammähnlich umzukehren: Ich will arbeiten, um zu sein. Die einzige Voraussetzung dazu war, meinen Bedarf zu senken. Genau das gelang. Also steht der Fortsetzung des Experiments »Weniger« nichts im Wege. Es lebe das weiße Pferd, der Minimalismus und meine Jule.

Danke fürs Zuhören.
Jürgen

Am Ende noch mal der Hinweis: Ich baue gerade eine automatische Mailingliste auf um mir die aufwändige manuelle Veröffentlichung jedes einzelnen Blogs zu ersparen. Daher würde ich mich freuen, wenn du dich hier einträgst. Ich bedanke mich dafür mit einem kleinen "Extra".
DANKE!