Samstag, 14. März 2015

Die Frau am Eingang

An der roten Wand hingen zwei Porträts einer älteren Dame. Links blickte sie müde. Aber die Lachfältchen um ihre Augen erzählten davon, dass sie mit dem Mann hinter der Kamera scherzte. Auf dem anderen Bild durchzogen tiefe Furchen ihr Gesicht und dunkle Schatten umringten die geschlossenen Lieder. Links lebte sie, rechts war sie war tot. Zwischen den beiden Fotos hing ein gelber Zettel mit ihrer Geschichte:
 Kinder groß ... Mann gestorben ... dann kam der Krebs ... bin fertig, habe meinen Weg vollendet ... wenn ich gehe, ist es der Punkt hinter einem erfüllten Leben ... bin gespannt ... Datum der ersten Aufnahme: 23. Januar 2002 ... Datum der Zweiten: 27. Januar 2002

Die beiden Schwarzweisbilder eröffnen eine Ausstellung in der Kirche Don Bosco in Basel. 40 Porträts bebildern 20 Geschichten vom Sterben. Je eins dicht vor und eins kurz danach aufgenommen. „Noch einmal Leben“ nannte der Künstler die Serie - wohl deshalb, weil die meisten Gespräche, die er mit den todkranken Menschen geführt hatte, diesen oder ähnliche Wünsche enthielten. Alle, außer der Frau am Eingang, äußerten dieses Bedürfnis. Sie wollten nochmal eine Chance um irgendetwas besser machen zu können oder etwas bisher Unausgesprochenes auszusprechen. „Am Ende wird man ehrlich“ - stand auf einem der Geschichtenzettel - „zu anderen und zu sich selbst.“ 

Als ich mich fragte, was ich beim Betrachten der Bilder empfinde, stellte ich fest, dass meine Gedanken ähnlich starr, wie die toten Gesichter waren. Und weil es in Kirchen immer kalt ist, in dieser sogar eisig, erstarrte auch mein Körper. Ich ertappte mich, wie ich in der Mitte des Raumes stand und in die Stille lauschte. Was mögen Menschen denken, so kurz vor dem Augenblick, an dem sie gehen? In den kurzen Auszügen aus den Interviews nahm ich meist Traurigkeit wahr, bis hin zur Verzweiflung, selten Ruhe. Es ist unglaublich schwer, sich vorzustellen, was man selbst in dieser Situation empfinden würde. Ich wohl am ehesten Ruhe, glaube - nein - hoffe ich. Aber ich lebe gern. Ob ich darum, mein Ende trotzdem ruhig annehmen kann? Ich werd‘s erleben. Irgendwann bekomme ich die Chance es herauszufinden, wie jeder von uns.

Als ich ging, klangen zufällig die Glocken. Vom bunten Leben hier draußen auf der Straße fühlte ich mich in dem Moment Lichtjahre entfernt. Die Endlichkeit meines Daseins nahm ich so deutlich wahr, wie nie zuvor. Sollte der Fotograf diese Idee verfolgt haben, war seine Arbeit perfekt. Auf dem Heimweg dachte ich über die Frau am Eingang nach, besonders den einen Satz auf ihrem Zettel: „Wenn ich gehe, ist es der Punkt hinter einem erfüllten Leben.“ Mir kam eine Textzeile dazu in den Sinn: „I‘d rather be a comma than a full stop - ich bin lieber ein Komma als ein Punkt“. Ob Chris Martin diese Art Endpunkt im Sinn hatte, als er den Song komponierte? 

Manchmal beendet ein „full stop“ aber auch nur eine Episode. Hinter eine Beziehung machten wir einen Punkt, wenn einer von beiden unzufrieden ist. Das Ende ist, in diesem Fall zumindest, zur selben Zeit ein Anfang. Es geht schließlich weiter, egal wie tief der Schmerz oder wie groß der Jubel über die wiedergewonnene Freiheit ist. Diese Art „full stops“ sind also gleichzeitig Kommas. Es braucht sie, als Trennung zwischen Altem und Neuem. Vielleicht ist daher auch der dicke Punkt, dort wo wir das endgültige Aus vermuten, nur ein solches Komma und die Grammatik des Lebens endet niemals. Die Frau am Eingang weiß es jetzt.

Danke fürs Lesen
Jürgen