Mittwoch, 6. Mai 2015

Hemingways letztes Hemd

Kürzlich kramte ich in der „Brockistube“ bei mir um die Ecke. So nennt man ein Antiquariat in der Schweiz. Zwischen all den Büchern fand ich „Paris, ein Fest fürs Leben“ von Ernest Hemingway. Was für eine Freude! Es ist das letzte Buch des Autors, das ich noch nicht gelesen habe. Außerdem war ich noch nie in der Stadt der Liebe. Da ich weiß, wie lebendig „Hem“ schreibt, freute ich mich schon beim Kauf auf die Lektüre. Seitdem lag das Buch auf meinem Nachttisch, und jedes Mal wenn mein Blick es streifte, wuchs die Vorfreude ein kleines Stück.
Sicherheitshalber hatte ich es für die Reise in die Seitentasche meines Rucksacks gesteckt, denn es wäre ja möglich, dass er unterwegs kommt, dieser spezielle Augenblick, in dem man in Stimmung für etwas Besonderes ist.

Und tatsächlich, genau so war‘s. Kurz nach der Abfahrt des Zuges, griff ich danach und tauche ein in die schnörkellosen Storys. Hemingway erzählt vom Alltag seines Lebens in Paris. Nichts weiter. Aber er tut es in einer unnachahmlichen Art, die seine Fans noch heute begeistert. Für kurze Zeit bekam ich so etwas wie Gänsehaut. Das passiert sonst nur bei geiler Musik vom Typ Bohemian Rhapsody, Nessun Dorma oder Stairway to Heaven und anderen Momenten freudigster Berührtheit. Ja, ich freute mich wirklich - über die großartigen Texte, über den ruhig dahin brausenden Zug und darüber, dass morgen mein erster Tag in einem neuen Job sein wird. Nach einer Weile legte ich das Taschenbuch auf den Tisch. Vorm Fenster flog nasses Grün vorbei, so satt, dass es dem regenverhangenen Himmel Hoffnung statt Trauer verlieh. Das Bild wirkte wie eine von Hemingways Erzählungen: kräftig und gleichzeitig beruhigend.

Nun frage ich mich, was eine Bahnfahrt, bei der ich ein Buch lese, so Besonderes haben könnte, dass ich davon Freudengänsehaut und elysische Ideen bekomme. Selten, vielleicht nie hat irgendein „Ding“, das ich besaß, mich mit derart angenehmen Gefühlen erfüllt. Nicht meine Autos, und ich war ein großer Fan, nicht meine Häuser, und ich baute sie mit Liebe und Anspruch, und auch kein anderes „Etwas“ vermochten solche Empfindungen hervorzurufen.
  
„Sammle Erfahrungen, nicht Dinge.“
  
Mit ziemlicher Sicherheit stimmt diese Empfehlung. Erlebtes, und seien es kleine, unbedeutend scheinende Begebenheiten, bleibt, solange man ist. Und es bereichert das eigene Denken und damit das Leben. Fast alles Greifbare hingegen verschwindet. Zumindest verliert es an Wert. Spätestens dann, wenn wir vor unseren Schöpfer treten, schmelzen alle Güter dahin. Das letzte Hemd hat keine Taschen ...

Wir wissen um diesen Umstand. Natürlich. Trotzdem streben wir nach Vermögen - viel mehr als nach Erlebnissen. Ein ehemaliger Freund erklärte mir einst hinter vorgehaltener Hand, er besitze mittlerweile so viele Häuser, dass er Millionär sei. Das klang stolz - und etwas angeberisch. Er meinte auch, dass es viel Arbeit war. Nie hatte er Zeit, sich anderen Dingen zu widmen. Was er nicht wusste, seine Frau ging fremd. Weil er nie da war.

Danke fürs Lesen.
Jürgen

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