Donnerstag, 30. April 2015

Ein Zaun ... nur ein Zaun

Links hinter mir zerfetzt eine Papiertüte. Wahrscheinlich so eine Naturbraune von Mc Donalds oder Burger King. Zumindest riecht es auf einmal nach Fastfood. Gleichzeitig verkündet ein blondes Stimmchen: „Liebe Reisende, leider muss unser Bordbistro während der Fahrt nach Basel geschlossen bleiben.“ Zweieinhalb Stunden und nichts zu trinken - toll. Wenigstens hatte uns Frankfurt mit einem guten Frühstück verabschiedet und wenigstens rollt der Zug. Erst gestern Abend ließ die Bahn uns via Email wissen: „Streiks beendet!“ Bin gespannt, wie lange der Frieden diesmal anhält.

Zwei Wochen war ich mit meiner Freundin Gabriela unterwegs. Zuerst in Rom und dann auf Sansibar, dem Eiland vor der tansanischen Küste. Die Ewige Stadt war wunderbar, wie immer, und sie inspirierte mich, was du an den zwei Blogs in kurzer Reihenfolge gemerkt haben dürftest. Auch später die weißen Strände des Indischen Ozeans, die tropische Vegetation, das Wetter, die gemeinsamen Tauchgänge ... alles absolut kopfkinogeeignet und eines Traumurlaubs mehr als würdig. „Das Leben ist verdammt hart“ scherzten wir, als wir mit einer „All Inclusive - Pina Colada“ während des Sonnenuntergangs den brennenden Himmel bestaunten.

Schon kurze Zeit nach der Ankunft bekam das Paradies allerdings einen Riss. Auf irgendeinem News Channel verfolgten wir Liveberichte aus Lampedusa. Dort waren in der Nacht mehrere hundert Afrikaner, die in kleinen Booten die Fahrt zu der italienischen Mittelmeerinsel gewagt hatten, gescheitert und ertrunken. Neben dem Entsetzen kamen mir bei dieser Nachricht Erinnerungen. Vor ungefähr einem Jahr fand ich mich, damals in Indonesien, mitten in einem solchen Vorfall. Direkt vor mir, an einem Strand an der Südküste Javas, landete ein orangefarbenes Rettungsboot, vollgestopft mit Männern, Frauen und Kindern. Sie tauchten aus dem dämmerigen Nichts auf, sprangen von Bord und verschwanden im nahen Wald. Kurz darauf kam die Polizei und nahm die Verfolgung auf. Meine Gastgeber berichteten später, dass es Flüchtlinge gewesen seien, die sich auf dem Weg nach Australien verfahren hatten ... um über 2.000 Seemeilen. Offenbar waren sie völlig unzureichend ausgerüstet. Auch Wasser gab es keines mehr an Bord. Ihre verzweifelte Suche nach einem menschenwürdigen Leben endete mit der Abschiebung in ihr Herkunftsland. Bad Luck!

Die Afrikaner vor Lampedusa hatten letzte Nacht noch weniger Glück. Meinte ich zumindest. Doch dann erzählte einer der Geretteten im Interview, dass jeder Flüchtling sich der Lebensgefahr absolut bewusst sei. Trotzdem gehen sie an Bord und wagen die Überfahrt. Der Mann aus Eritrea sagte, dass Terror und Hunger grausamer seien als der Tod. Selbst nichts zu essen zu haben, meinte er, sei schlimm. Zusehen zu müssen, wie das eigene Kind verhungert, oder die eigene Frau vergewaltigt wird, unerträglich. Und hier war ich, in einem der ärmsten Länder der Welt und sollte mein Leben genießen. Wir wohnten in einem tollen Glitzerresort und genossen perfekte Verpflegung. Und die da draußen, die Schwarzen, die potentiellen Flüchtlinge?

Am nächsten Tag bat ich einen der Mitarbeiter des Hotels, den ich beim Volleyball kennengelernt hatte, Gabriela und mich in das nahegelegene Dorf zu begleiten. Uns interessierte, wie es dort aussieht, wo diese Menschen leben. Der junge Kenianer sprach gut Englisch. Er selbst war aus Nairobi vor der dortigen Gewalt somalischer Terrormilizen geflohen. Nun lebte Sharif in unserem Resort und nannte seine Stelle den „Jackpot“. Er hatte Kunst studiert und war mit seinem sehnigen schwarzen Körper der Prototyp eines Animateurs. Dafür und dafür, dass er uns Touris bespaßt, bekommt er im Monat etwa 100 $ plus Verpflegung und Unterkunft.

Nach längerem Spaziergang erreichten wir das Dorf Nungwi. Zuerst gingen wir zur Schule am Dorfplatz. Dort lernten in vier offenen Klassenzimmern ungefähr 150 Kinder. Der größte Teil von ihnen saß auf dem Boden. Ein Teil schrieb in kleinen Heften mit. Die, die nicht schrieben, hatten kein Papier oder keinen Stift. Ich beobachtete eine Weile, wie die junge Lehrerin den Satz des Pythagoras erklärte. Trigonometrie geht überall auf der Welt gleich. Vieles andere nicht.

Der Weg führte uns weiter in ein winziges Krankenhaus, welches in unseren Breiten nicht mal den Namen verdienen würde. Dies war der Platz, an dem Malaria, Typhus und unzählige Erkältungskrankheiten kuriert werden sollen. Der einzige Arzt war höchstens 30 Jahre alt. Ich sprach mit ihm darüber, wie er hier arbeitet und versucht den Kranken zu helfen. An der Wand hingen seine Statistiken über Krankheiten und deren Häufigkeit in der Gemeinde. Auf meine Frage, welches denn seine dringendsten Probleme sein, schob er mir eine Liste über den Tisch. Seine „Bucket List“ der notwendigen Verbesserungen. Ich war platt.

Am wichtigsten war ein Zaun. Nachts kommen Menschen, denen die wenigen Habseligkeiten im Krankenhaus einen Einbruch wert sind. Auch verrichten etliche ihre Notdurft im Außenbereich. Die Kosten würden ungefähr 2.000 $ betragen meinte der Doc. An zweiter Stelle stand ein Raum, den ich im Rohbau besichtigen konnte. Er steht so seit 3 Jahren. Es gebe einfach kein Geld für Fliesen und einige Einrichtungsgegenstände. Das Labor in der Hauptstadt Stone Town verlangt Preise, die für die Dorfbewohner unerschwinglich sind. Mit einer eigenen simplen Analyse ließe sich die Behandlung schlagartig auf ein anderes Level bringen und die Heilungschancen würden sich verdoppeln. An der Tür verabschiedete sich das gesamte Team. „Wenig Menschen interessieren sich dafür, wie es uns hier geht“, meinte eine der Krankenschwestern.

Wir gingen weiter und sahen unter welchen Bedingungen die Dorfbewohner leben. Schmutz, Enge, Strom aus herunterhängenden Drähten, keine Wasserleitung, keine Kanalisation und trotzdem hier und da das Lachen von im Dreck spielenden Kindern. Eine Stunde später verließen wir den Ort. Wir waren „satt“. Aus den Eindrücken quoll die fast bestürzte Feststellung: „Das kann doch alles nicht sein!“ Die Bilder aber auch Hitze und Feuchtigkeit hatten uns ausgelaugt. 

Auf einer Hotelterrasse nahmen wir in bequemen Loungemöbeln Platz. Dem Blick bot sich eine fast schon betörend schöne Postkartenszenerie: palmengesäumter Puderzuckerstrand vor tiefblauem Meer und beides unter einem mit weißen Wölkchen garnierten Himmelblauhimmel. Frangipani und Patchouli ließen die ganze Gegend dufteten. „Warum bringt der Tourismus kein Geld ins Land?“ fragte ich Sharif. Er erzählte, dass alle Resorts in ausländischer Hand seien. Die Eigentümer schmieren die Politiker, und erhalten so alle Genehmigungen und Schutz. Auch ein Teil der Einnahmen geht direkt in die Taschen der Beamten. Beim Volk landet nichts. Korruption hoch zehn. Für die Einheimischen bleibt einzig, uns Touristen aus dem Westen zu bedienen. Trotz der Hungerlöhne sind sie aber genau darüber glücklich. „Sonst wäre es noch schlimmer“ meinte Sharif.

Wie als Beweis erlebten wir vor der Abreise, den Auftritt eines Fürsten der Bananeninselrepublik. Auf freier Strecke wurde unser Taxi unvermittelt von der Polizei gestoppt. Man erklärte, dass nun der „Präsident“ komme. Das Leben ringsum hatte dafür anzuhalten. Nach einer Viertelstunde durften wir weiter. Der hohe Herr blieb aus. Kurz darauf das gleiche Spiel. Diesmal kam er. Zuerst Polizeimotorräder, dann Soldaten auf einem LKW, in der Mitte ca. 10 riesige Geländewagen und zum Schluss wieder Wachmannschaften. Und das alles für den Herrscher über ein paar hunderttausend Menschen, einen in angeblich freier Wahl gewählten Politiker.

Der Zug rattert gerade unterhalb des Schwarzwalds entlang. Bald werden wir Basel erreicht haben, ohne zu verdursten. Unser Urlaub war wundervoll, nicht nur weil es der Erste gemeinsame war. Jedes Mal allerdings, wenn ich mich frage, wie es gewesen sei, kommen mir die erlebten Widersprüche hoch und ich muss nachdenken. Lange habe ich mit Gabriela darüber gesprochen. Nun weiß ich es: Das Krankenhaus kriegt seinen Zaun und die Kinder Schreibzeug. Vielleicht schaffen wir sogar das Labor. Und ja, ich fahre wieder hin in die armen Länder. Aber ich werde versuchen dafür etwas zurückzugeben. Ihnen, den Menschen, die dort bleiben. Denen, die keine Flüchtlinge sein wollen. Das wird die Welt nicht verbessern, aber es ist richtig.

Danke fürs Lesen!
Jürgen

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