Montagmorgen 6,40 Uhr. Vor mir im Bus sitzt eine Frau. Von hinten erkenne ich ein selbstbewusst erhobenes Haupt unter kurzem blonden Haar. Sie ist sportlich und wahrscheinlich auch sexy. Die Figur zeugt von disziplinierter Lebensweise. Neben ihr das kleine Mädchen macht keinen Mucks. Viel zu früh musste sie aufstehen und lehnt nun an der Mama, die sie in den nächsten Minuten im Kindergarten abliefern wird. Wenn sie nicht so müde wäre, würde sie sich auf die anderen Kinder freuen. „Warum darf ich nicht noch schlafen?“ denkt sie.
Im Gesicht des Jungen dort drüben erkenne ich Angst. Gleich schreibt er eine Klassenarbeit. Seit Tagen sitzt ihm deshalb ein wohlmeinender Engel auf der Schulter und flüstert „lerne“. Der Dämon gegenüber raunte „sei faul“. Mich erinnert das an mein eigenes Schuljungen-Ich, welches damals jeden Sonntagabend vor dem Fernseher saß und Bonanza schaute. Dabei fühlte ich mich so ähnlich, wie mein kleiner Mitfahrer: keine Hausaufgaben gemacht und nicht gelernt. Weder Ben Cartwright noch seine Söhne mit ihren schnellen Colts konnten mir da helfen. „Augen zu und durch“ würde der Junge gern denken. Nur wie erklärt er seinen Eltern das Versagen? „Scheiße, warum bin ich nicht schon groß?“
Ihm gegenüber sitzt ein graues Muttchen mit Hornbrille. Meine Oma Hilde sah so ähnlich aus. Bei ihr entdeckte ich mal tief lilafarbene Haarspülung in einer Glasflasche, auf der „Londa silbergrau“ stand. Seit dem muss ich an Lila denken, wenn ich so helle Haare sehe. Oft las Oma mir vor, als ich das noch nicht konnte. Zuletzt las ich ihr vor, als sie es nicht mehr konnte. Ob sie zuhörte, weiß ich nicht. Wegen der Demenz merkte man ihr nicht mehr viel an. Die Oma hier im Bus ist nicht dement. Und sie wird es wohl auch nicht. Aus hellen Augen blickt sie ausgeschlafen in die Welt. Sie ist auf dem Weg zum Friedhof, wo sie seit 8 Jahren sein Grab pflegt. Verdient hat er es nicht. Aber, was soll sie sonst tun mit ihrer Zeit? Danach geht sie einkaufen. Braucht ja kaum etwas, aber die Kassiererin ist so nett. Vielleicht schaut sie auf dem Rückweg ja nochmal bei Grete vorbei. Die hat wieder so schlimmes Rheuma.
Neben dem Fahrer steht eine kleine Südamerikanerin. Ich nenne sie Maria, weil Frauen dort oft so heißen. Sie hat eine Menge südamerikanische Freundinnen. Hier in der Schweiz nennt man die Kolleginnen. Mit ihnen redet sie gern in ihrer Muttersprache und vor allem schnell und auch viel und sie schreiben noch mehr Textnachrichten. Genau das tut Maria auch im Moment. Gerade verabredet sie sich mit ihrem Latinaclan zu einem Drink am Feierabend. Treffen werden sie sich am Rhein, im Veronica, welches eine Terrasse über dem Wasser hat. Es muss ein großer Clan sein - so viele Nachrichten, wie sie erhält.
Plötzlich stürmt eine Meute Schulkinder herein. Sie tragen keine Schultaschen, sondern Regenjacken, bunte Rucksäcke und Wanderschuhe. Es ist Wandertag! Und sie sind unterwegs in den Schwarzwald auf der anderen Seite des Rheins. Ihre Lehrerin treffen sie am Badischen Bahnhof. Von da geht es mit dem Zug hinüber in den „Großen Kanton“ Deutschland, wo alles so billig ist. Kinder verstehen das nicht. Ich auch nicht, und mir macht es sogar ein bisschen Angst. Die Kids aber genießen Eis und Burger für weniger als die Hälfte dessen, was sie zu Hause zahlen müssten. Nur ein paar Kilometer von zu Hause. „Geil!“ Schreit einer, als er auf das Handy des Nachbarn schaut. Dabei bewegt er seine Hüften auf eindeutige Weise vor und zurück. Bei einem Neunjährigen wirkt das nicht obszön, sondern niedlich. „Wie mag das wohl sein, was die beiden in dem Video machen?“ fragt sein Blick, als er nicht mehr lacht.
Der Bus bremst, um an der nächsten Haltestelle zu stoppen. Die blonde Mutti vor mir macht sich und die kleine Maus zum Aussteigen fertig. Als sie aufsteht, sehe ich ihr Gesicht. Und ... ich bin platt. Totalstens. Sie ist ein Mann. In Frauenkleidern. Mit Kind. Und aus dem von hinten vermuteten Selbstbewusstsein ist eher scheue Zurückhaltung geworden und Unsicherheit. So kann man sich täuschen.
Außer den Menschen ist alles, was ich hier aufgeschrieben habe, erfunden. Woher soll ich diese Dinge auch wissen? Die Gedanken dazu entstanden aber tatsächlich. Sie wuchsen aus meinen Erfahrungen und den Ansichten, die sich daraus entwickelten. Oft genug haben diese Bilder nichts mit der Wahrheit zu tun. Außerdem können sie sich in jedem Moment ändern, weil sich die Perspektive ändert, oder wir irgendeine zusätzliche Information bekommen. Alles was ich hier aufgeschrieben habe ist nur meine Sicht und ich habe keine Ahnung, ob sie stimmt. Aber es könnte sein.
Danke fürs Lesen.
Jürgen
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