Sonntag, 23. August 2015

Sie sähen nicht, sie ernten nicht ...

Eben ging ich einen schmalen Pfad direkt am Ufer des Rheins entlang. Meine Sinne im „Saugmodus“, dachte ich kaum, sondern nahm nur wahr: die wärmende Sonne, zwitschernde Vögel, den Duft der Stadt und ihren Klang. Wunderbar, sich zwischen diesen Eindrücken treiben zu lassen. Plötzlich vernahm ich ein Geräusch, dass meine Aufmerksamkeit erregte und meinen Denkapparat wieder aktivierte. Die Quelle konnte ich nicht sofort finden, aber sie lag unmittelbar neben mir im Wasser.

Nach einem Moment des Suchens entdeckte ich zwei winzige Entchen, die mit der Strömung kämpften. Sie mühten sich und ließen das durch ängstliches Piepsen erkennen. Draußen, dort wo der Strom noch schneller fließt, schwamm die Entenmutter mit zwei weiteren Entenkindern. Sie stupste und schob die beiden in Richtung der vorausgeschwommenen Geschwister. Kurze Zeit später dümpelten alle fünf vereint im ruhigen Wasser. Die Mutter mit entspanntem Geschnatter, die vier Kinder mit erlöstem Piepsen.

Sie spielten und es war eine Freude das zu beobachten: necken, vortäuschen, Aufmerksamkeit erbetteln - die Ähnlichkeit zu Menschenkindern war frappierend. Längst saß ich und schaute dem Treiben zu. Ob es stimmt, weiß ich nicht, allerdings würde ich meinen, dass die Winzlinge so etwas wie Spaß hatten und das sie ihr Leben genossen ... ohne in einem menschlichen Sinn für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten. Blöder Gedanke, oder? Enten sind Vögel, was sollen die arbeiten? Ich kam darauf wegen eines Bibelzitates, welches mir in diesem Moment einfiel: „Sehet die Vögel unter dem Himmel. Sie säen nicht, sie ernten nicht.“ ... aber sie können glücklich sein, dachte ich. 

Beim Googeln erfuhr ich, dass es sich bei dem Bibelspruch um Matthäus 6:26 handelt und auch, wie er weiter geht: „... sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nähret sie doch.“ Klar, das ist christlicher Mainstream: Gott sorgt für alle Geschöpfe, auch wenn sie „nutzlos“ sind. Aber dann stellt der Apostel noch eine Frage: „Seid ihr (also wir Menschen) denn nicht viel besser als sie?“ Wow! Mattäus fragt und spornt so die Gläubigen an, es anders zu machen als die Vögel, zu säen, zu ernten und die Scheunen zu füllen. Nicht im Müßiggang, sondern fleißig sollen sie leben. Natürlich ist dem Oberhirten am wirtschaftlichen Wohlergehen der Christenheit gelegen, denn je mehr seine Schäflein verdienen, desto mehr ... landet im Klingelbeutel. Egal, auf der katholischen Kirche hacke ich ein andermal herum.

Was ich interessant finde, ist ein Gedanke, der mir in diesem Zusammenhang kam: Irgendwann einmal war der Mensch dem Tiere gleich. Wir lebten als „Homo irgendwas“ in etwa auf einer Stufe mit Schimpansen, Truthähnen und Schäferhunden, suchten Nahrung, wenn wir Hunger hatten, und verbrachten die Tage mit Fortpflanzung. Ansonsten vertrieben wir uns die Zeit, wie die Entchen im Wasser. Woran es schlussendlich lag, dass gerade unsere Spezies sich als Homo erectus aus dem Tierreich und sogar übers Tierreich erhob, weiß niemand. Manche machen eine Schlange und einen Apfel verantwortlich, manche die lenkende Hand Gottes und manche gar eine so genannte Evolution. Die Meinungen gehen da weit auseinander, je nach Glaubens- oder wissenschaftlicher Richtung. Fest steht, dass unsere Ahnen robust waren und so jeder Unbill trotzten, die sich im Laufe der Jahrmillionen über sie ergoss. Sie überlebten und entwickelten sich, bis an die Spitze der Nahrungskette. Und doch sind wir heute auf eine ganz simple Art nicht mehr, als eine Lebensform unter vielen. Vernunftbegabt ja, aber rein biologisch immer noch Säugetiere. Trotzdem unterscheiden wir uns. In einem wichtigen Punkt. Was also führte dazu, dass gerade wir die Krone errangen? 

Ich glaube, dem „Homo irgendwas“ wurde irgendwann und von irgendwem etwas eingepflanzt, was ich als den „Drang nach dem Mehr“ bezeichnen möchte.  Im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen ist es der Mensch, der nie zufrieden ist, sondern immer mehr will? Kein einziger Hase hortet tonneweise Möhren, kein Fuchs besitzt Millionen Gänse und kein Entchen ... Was ich meine dürfte den meisten klar sein, denn fast jeder hat diesen Urinstinkt schon mal gespürt. Wir Menschen streben nach mehr! Bruno Ganz drückte das in dem Film „Dein Ende ist mein Anfang“ bildhaft aus: „Und wenn du allen die gleiche eiserne Reisschale und die gleiche Jacke gibst, immer wird es welche geben, die zwei Jacken und zwei Reisschalen haben wollen.“

Genau das meine ich mit dem „Drang nach dem Mehr“. Wahrscheinlich ist es auch schon immer so gewesen, dass dieses Sammeln von Reisschalen und Jacken manchem gelingt und manchem nicht. Die einen werden reich, die anderen bleiben arm. Mit etwas gutem Willen könnte man das auch Evolution nennen. Deren Ergebnisse müsste man dann in etwa so beschreiben: Die Kluft zwischen „Unten“ und „Oben“ wächst. Heute besitzen 1% der Weltbevölkerung mehr als die Hälfte des Weltvermögens, während jährlich mehr Menschen verhungern als an Aids, Malaria und Tuberkolose zusammengenommen sterben. Mit Hungerbekämpfung lässt sich schließlich nichts verdienen. Ganz im Gegensatz zum Medikamentenverkauf. Gleichzeitig ertrinken jeden Tag Flüchtlinge im Mittelmeer, nur weil sie dem Elend ihrer Heimat entkommen wollen. Und dort, wo sie glauben, ein besseres Leben führen zu können, werden sie gehasst. Sogar in der Europäischen Union opfert man die Wiege der Demokratie, um den Banken, den gottgefälligsten Scheunenfüllern überhaupt, in ihrer Sammelwut keine Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Als Begründung dieser Perversionen schreien Politiker täglich eine kakophonische Hintergrundmusik durch die Parlamente der Welt: „Wir brauchen Wachstum.“

Vielleicht ist das alles tatsächlich die heutige Form der Evolution. Gefallen muss einem das nicht, denn es ist ungerecht und weder ethisch noch moralisch. Dieses Empfindungsvermögen hat die „echte“ Evolution nämlich auch in uns angelegt. In den Meisten zumindest. Und darum wäre es gut, wenn die Krone der Schöpfung auch den Willen und die Kraft finden würde, diese katastrophalen Zustände zu beseitigen. Dann wüssten wir, dass Menschlichkeit in den Zeiten des Kapitals etwas bewegen kann, so ähnlich wie die Liebe in den Zeiten der Cholera. Allerdings wird sich der Mensch dazu ändern müssen. Er muss lernen, auf Gewalt zu verzichten, auf Herrschaft, auf Profit und auf Eigennutz. Und er muss ab und an mal am Fluss sitzen und den Entchen zuschauen.

Danke fürs Lesen.
Jürgen
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