Montag, 8. Februar 2016

Die Festigung der Verhältnisse - und eine Hoffnung

Jeder spürt, dass in letzter Zeit Dinge in unserer Welt aus dem Lot geraten. Es kriselt: Nahrungskrise, Griechenlandkrise, Finanzkrise, Flüchtlingskrise, man hat das Gefühl, Krisen sind überall. Manchmal wird „für“ etwas protestiert: für mehr Hartz IV, für die Rettung des Abendlandes oder für den Weltfrieden. Deutlich häufiger aber protestiert man dagegen: gegen den Bau des Stuttgarter Bahnhofs zum Beispiel, gegen die Flüchtlingsmassen oder die Macht der Banken. In jüngster Zeit geht es oft auch gegen die neuen Freihandelsabkommen TTIP und TiSA.
Deren pazifisches Pendant wurde diese Woche in meiner Wahlheimat Auckland unterzeichnet. Für die europäischen Staaten steht der Abschluss ins Haus. Fast alle Länder dies und jenseits des Atlantiks werden wohl die Verträge abschließen. Trotz der Proteste. Es sind schließlich nicht die ersten Handelsabkommen.

Was aber macht diese neuen Abkommen zu etwas Besonderem? Zur Erklärung muss ich kurz den „Normalfall“ der Sozialen Marktwirtschaft schildern, der bis vor ungefähr 10 Jahren galt: Regierungen regeln das Zusammenleben im Land und das mit anderen Ländern mittels Gesetzen und Übereinkommen. Sie erlassen Regularien, um die Gesellschaft und die Kräfte des Marktes zu ordnen. Dies ist erforderlich, damit Regeln für das Miteinander bestehen und damit das Gewinnstreben der Märkte sich nicht gegen das Wohl des Volkes richtet. All das ist auch der Sinn des ersten Artikels unseres Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Um diese Pflicht wahrnehmen zu können, braucht der Staat Geld. Er generiert Einnahmen aus Steuern und anderen Abgaben. Ein großer Teil dessen kommt von den Unternehmen. Sie sind es auch, die Löhne an ihre Mitarbeiter zahlen. Lohn- und Einkommensteuer bilden in fast allen Ländern der Welt, den größten Teil der Staatseinnahmen. Darum ist die Arbeitslosenquote so wichtig. Viel Arbeit heißt viel Lohn, heißt hohe Steuereinnahmen. Geht es der Wirtschaft gut, sprudeln also die Gelder auf das Konto des Finanzministers, die der Unternehmer und die der Arbeitnehmer. Das klappte seit der Frühzeit des Kapitalismus bis vor einigen Jahren meist wunderbar. Firmen bezahlten ihre Beschäftigten und beide ihre Steuern. Und das alles im eigenen Land.

Im Zuge der Globalisierung wuchsen wir als Menschen über alte Grenzen hinaus. Besonders für die jungen Generationen ist es normal, Kosmopolit zu sein. Ich selbst habe schon in sechs Ländern gearbeitet, trotzdem ich bei weitem nicht mehr jung bin. Noch internationaler wurde es für die Wirtschaft. Man findet heute in fast jeder Ecke der Welt dieselben Produkte. Grenzen existieren praktisch kaum noch. Dies ist ein Grund dafür, dass Firmen sich zu multinationalen Konzernen entwickelt haben. Sie nutzen natürlich auch die Vorteile dieser Internationalität. Steueroptimierung zum Beispiel. Apple zahlt in seinem Heimatland kaum Steuern. Wie bitte wirst du jetzt fragen. Ja, so ist es. Denn der steuerliche Sitz des Apfelkonzerns ist Irrland. Dort beträgt die Höhe der Abgaben nur einen Bruchteil dessen, was in den USA fällig wäre. Den Eigentümern des Unternehmens, den Aktionären, gefällt das natürlich, denn sie fordern geradezu hohe Renditen. Schließlich möchte jeder aus seiner Kapitalanlage in Apple-Aktien den bestmöglichen Ertrag. Du sicher auch, falls du welche besitzt. Die Einnahmen des Staates aber, in diesem Fall die der USA, leiden wegen solcher Globalisierungsauswirkungen.

Ein weiteres Problem ist, dass von den steigenden Gewinnen immer nur ein Teil ins Staatssäckel fließt. Der kleinere Teil natürlich, denn die Steuerlast liegt meist unter 50%. Da unsere Staaten aber dringend mehr Geld brauchen - schließlich müssen sie nicht nur für Leistungen zahlen, sondern auch Zinsen für geliehenes Geld - tun sie fast alles fürs Wachstum ihrer Cash-Cows, der Konzerne. Deren Einkommen steigt deswegen immer stärker als die Einnahmen des Finanzministers. Das Ergebnis ist die mittlerweile auf ein unanständiges Maß gewachsene Lücke zwischen Arm und Reich, zwischen denen, die nichts haben, und den Besitzern der Unternehmen. Der im Kapitalismus eingebettete Automatismus lautet: Reich wird reicher, Arm wird ärmer. Ausdruck dessen ist die zunehmende globale Ungerechtigkeit. Sie ist allerdings kein Akt der Raffgier böswilliger Kapitalisten, sondern schlicht ein Fehler im System. Dieser, gemischt mit dem natürlichen Streben des Menschen nach immer mehr, führt zu der absurden Situation, dass derzeit 80 Personen an der Spitze so viel besitzen, wie die arme Hälfte der Weltbevölkerung.

Vor zwei Wochen tagte die Elite der Weltwirtschaft in Davos. Übereinstimmend wurde dort in zahlreichen Diskussionen zwischen Politikern und Wirtschaftsbossen festgestellt, dass das Wachstumspotential der weltweiten Märkte am Ende angelangt sei. Bestehende Hemmnisse, in Form nationaler Gesetze, Steuern und Regularien, bremsen es. Einst wurden diese Regeln zum Schutz der Bürger und des Gemeinwohls erlassen. Dieser Fakt spielte bei der Diskussion allerdings keine Rolle. Es ging nur um Wachstum und was nötig ist, um dieses zu sichern. Alternativlos nannte man den Bedarf danach.  Leider muss ich bekennen, dass ich das genauso sehe. Wollen wir zukünftig unter denselben Umständen leben wie heute, müssen Unternehmen mehr verdienen, damit die Staatseinnahmen steigen. Gleichzeitig ... werden die Reichen weiter reich und die Armen weiter arm. 

TTIP und TiSA spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Sie beseitigen nämlich all die Hemmnisse, die diesem Wachstum entgegenstehen. Beispielsweise können Unternehmen künftig sehr leicht, und ohne ordentliche Gerichte, Staaten verklagen, wenn sie sich in ihrem Gewinnstreben behindert fühlen. Ein Beispiel: Schon derzeit verklagt Philip Morris den Staat Uruguay wegen zu strenger Nichtrauchergesetze. Der Tabakkonzern möchte zwei Milliarden Dollar von dem südamerikanischen Land, weil die Gewinne dort seit Einführung der Gesetze dramatisch zurückgingen. Die geforderte Summe entspricht einem Sechstel des Staatshaushaltes und eine Strafzahlung würde das Land auf Jahre von seinem positiven Kurs abbringen. Die Aussichten für den Zigarettenhersteller sind derzeit noch schlecht. Mit TTIP wären sie allerdings blendend. Uruguay müsste definitiv zahlen, trotzdem die Nichtraucherregeln ausschließlich dem Wohl des Menschen dienen. Warum, fragt man sich. Weil wir eben Wachstum brauchen, lautet die simple Antwort.

Und weil diese Zusammenhänge ebenso abstrus sind, wie die ungerechte Besitz- und Einkommensverteilung in der Welt, werden die Inhalte dieser Abkommen geheim gehalten. Nicht mal diejenigen, die sie unterzeichnen müssen, sollen sie im Detail lesen. Eine breite Diskussion würde die Einführung nur verzögern. Und schon das wäre ein Problem. Also lautet die Anweisung  der Regierung an alle Zweifler: „Unterschreiben! Wir müssen da jetzt einfach durch. Wir brauchen Wachstum!“ 

All das ist schrecklich. Es ist eine wahrhafte Katastrophe. Allerdings eine, die man verhindern könnte. Der Preis dafür wäre jedoch hoch. Er würde heißen, Stagnation oder gar Rückgang der Wirtschaftsleistung, der Staatseinnahmen, und damit des Wohlstandes von uns allen. So lange, bis das System neu justiert ist. Sein derzeit größter Fehler liegt in der absoluten Notwendigkeit von Wachstums. Man müsste genau diesen Bedarf eliminieren, um zu einer nachhaltigen Struktur von Staaten wie Unternehmen zu finden. Denn weder unsere Wirtschaft, noch die Erde, halten diesem ewigen „mehr“ stand. Das bedeutete aber nicht weniger als ein komplettes Reset sämtlicher Systeme. Wir müssten anhalten, neu verteilen und neu anfangen. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies gelingt, ist gering. Die dafür, dass es genügend Politiker gibt, die das System wie es ist, erhalten möchten, ist eindeutig größer. Schließlich wollen sie wiedergewählt werden. Der jüngste Abschluss des transpazifischen Paktes TTP hat genau das gezeigt.

Aber keine Angst ihr Lieben, es wird nicht wesentlich schlimmer als es heute bereits ist. Nur die Reichen werden weiter reich und die Armen weiter arm. Allerdings ist das schon das nächste Problem, dem ich mich hier nicht widmen möchte. Und bei all dem, eines ist sicher. Wirtschaft ist kein Selbstzweck. Sie braucht Kunden, die Waren verbrauchen und sie braucht Angestellte, die sie herstellen. Ohne uns Menschen funktioniert das System zum Glück nicht. In der Summe sehe ich das so wie bei meiner Flugangst. Um dagegen anzugehen, sage ich mir immer, dass auch die Piloten nicht sterben wollen. Darum werden sie ihr Bestes geben, das wir alle überleben. Da wir mit ihnen auf ähnliche Weise in einem Boot sitzen, wie mit den Staatslenkern und Wirtschaftsbossen, wird unser Mutterschiff Erde auch nach TTP, TTIP und TiSA nicht untergehen. Vernunft, das ist meine Hoffnung. Vernunft beim Wachsen wie beim Schrumpfen, beim Umgang mit den Ressourcen wie mit den Abfällen. Kämpfen aber müssen wir trotzdem. Allein um zu zeigen, dass die Entwicklung falsch ist. Politik und Wirtschaft sollen verstehen, dass auch wir verstehen. Außerdem haben wir die Pflicht für die wachsende Zahl der Armen zu sorgen, für die, die das Selbst nicht können, für die, am unteren Ende der Einkommensskala. Dazu gehören für mich hauptsächlich jene, die den „Nebenwirkungen“ des Kapitalismus, wie Umweltzerstörung, Klimawandel und Krieg schutzlos ausgesetzt sind. Die Würde des Menschen ist nämlich unantastbar. Das gilt für jeden, überall auf der Welt.

Ich habe Hoffnung und das schließt ein, dass ich hoffe, dass auch du welche hast.

Danke fürs Lesen.
Jürgen

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