Sonntag, 16. Juni 2013

Die achte Todsünde

Vor vierzehn Tagen startete ich in meiner neuen Heimat Neuseeland, um Urlaub in der »Alten Welt« zu machen. Seltsames Gefühl. Du reist zu den Plätzen, an denen dein Leben stattfand, die dir vertraut sind wie die Märchen aus Kinderzeiten. Dorthin wo sich alles zu dem formte, was dich ausmacht und du beginnst, mit den Augen des Reisenden Orte und Menschen neu zu entdecken.

Beim Aufbruch freilich gab es nur einen Gedanken: meine Ehe zu retten. Schon im ersten Treffen jedoch kapierte ich, dass es entweder zu früh oder zu spät dafür war. Lange vor dem ursprünglich fürs Grab geplanten Abschied umarmten wir uns am Flughafen von Palma. So muss es sich vorm Sarg anfühlen dachte ich und rannte los zum Vergessen, Verdrängen, Abschütteln.

Die beste Methode Seelenschmerz los zu werden, ist die Art der »harten Jungs«, drauf zu hauen, sich noch mal so richtig zu malträtieren. Danach wünschte ich mir neugeboren, wie nach einer Häutung aufzutauchen, oder wie Siegfried aus dem Bad im Drachenblut - unverwundbar. (Hier gehört einfach ein Smiley hin:-) Dafür schienen mir die Plätze der gemeinsamen Erinnerungen ideal. So begann eine Tour, die ich dem Abschiednehmen widmen wollte.

Je länger ich allerdings unterwegs bin, merke ich, dass es gar nicht um Abschied geht. Was wirklich passiert, ist etwas völlig Anderes. Es ist überraschend positiv, auch wenn es sich noch nicht gut anfühlt. Aber es ist so wunderbar, dass sich mein Wunsch zu erfüllen scheint. Der Schmerz wird scheibchenweise von sanfter Trauer verdrängt, die den Blick auf ein winziges Stück Zukunft freigibt. Zumindest kann ich heute spüren, dass da eine ist.

Ob Rom, Barcelona, Berlin oder Weimar, all die Orte erschienen mir in neuem Licht. Am ehesten liegt das daran, dass meine Lebenssituation sich so drastisch änderte. Was allerdings mindestens ebenso wichtig ist, ist die eingangs erwähnte Änderung des Blickwinkels. Ich bin jetzt ein Alleinreisender an diesen Plätzen. Und es scheint mir, als ob diese beiden Umstände meine Augen weiter öffnen, als sie je zuvor offen waren.

Im Park der Villa Borghese nahm ich wahr, wie harmonisch die Architekten im Mittelalter die Wege führten und welch wunderbare Form die Zypressen haben. In Trastevere saß ich bei Römern, die ihre Nächte in weinseligen Diskussionen über das Leben verbrachten. In Berlin beobachtete ich wie die Stadt am Morgen erwacht und ich sah, wie ein Brautpaar im Tiergarten für den Fotografen posiert. Und ich lachte mit Freunden in Potsdam aus vollem Herzen.

Auch lernte ich Menschen aus meinem Umfeld neu kennen. Ich spürte herzliche Anteilnahme, wo ich früher sensationslüsterne Neugier vermutet hätte. Ich konnte eine alte Baustelle schließen und ein schlechtes Bauchgefühl in ehrliche Freundschaft verwandeln.Es schien als ob meine Augen neue Linsen bekommen hätten. Der Blick ist ein völlig Neuer geworden.

Nichts von all dem hat das Potenzial zur Weltveränderung und vor allem, nichts davon ist alleine schöner als mit jemandem den man liebt. Unübersehbar jedoch ist, dass mir diese Kleinigkeiten Spaß bereiten und das ich sie vergessen hatte in den letzten Jahren. Man muss sie machen! MACHEN! - drauf kommt es an. Diese Minifreuden passierten, weil ich mich bewegte. Etwas, dass ich lange nicht mehr getan habe.

Ein Freund hat einst die Sieben Todsünden um eine achte Hauptsünde ergänzt. Genau diese beging ich wohl, ohne es zu verstehen. Die größte Sünde sagte er, ist die »Unterlassungssünde«. Darum hier eine freundliche Erinnerung für alle, die Gefahr laufen, ebenfalls in Trägheit zu versinken und damit die wichtigen Teile zu "unterlassen". Machen und in Bewegung bleiben und zwar in den kleinen Dingen. Das ist das Geheimnis. Dann klappt‘s auch mit den Großen.

Danke fürs Zuhören
Jürgen