Samstag, 29. Juni 2013

Lügen ist manchmal richtig, ehrlich...

Gestern erhielt ich eine aufregende Nachricht. Augenblicklich schlug mein Herz schneller. Zum einen, weil ich sah, wer da schrieb, zum anderen wegen des Themas, das die Schreiberin ansprach. ‚Warum bist du so verdammt ehrlich?‘ wollte sie wissen und noch schlimmer, weshalb ich meine Gedanken per Blog in die ‚Öffentlichkeit‘ trage. ‚Ertappt‘ dachte ich und konnte tatsächlich keine plausible Erklärung liefern. Meine Spontanantwort lautete, dass ich wohl früher einfach zu oft gelogen hätte und mich heute irgendwie ausgehungert nach Wahrheit fühle. Das schien zumindest nicht ganz falsch zu sein, fühlte sich jedoch auch nicht komplett an.


Auf meiner heutigen Laufrunde schwitzte ich mich bei gefühlten 30 Grad und lockerem Tempo über den schönen Gothaer Krahnberg. Unter derart guten Bedingungen setzt oft ein Zustand ein, den Läufer als »Flow« bezeichnen. Ordentliche Fitness vorausgesetzt produziert irgendwer in uns Endorphine und selbige befördern stecken gebliebene Gedanken in aktive Hirnregionen. Es macht Freude dort ‚laufend‘ das Entstehen von Ideen zu beobachten und manche von ihnen einzusammeln. So tauchte die Angelegenheit beim morgendlichen Joggen erneut auf meinem Schirm auf.

Bin ich denn wirklich so ehrlich? Und falls ja warum und warum so öffentlich? Ist es Geltungsbedürfnis? Berechnung? Exhibitionismus? Der »Flow« förderte neben diesen noch andere Aspekte zutage. Ich stellte zum Beispiel fest, dass ich keine Ahnung hatte, was Ehrlichkeit bedeutet. Außerdem war ich mir unsicher geworden, ob unbedingte Aufrichtigkeit ein Verhaltensideal sein sollte.

Gelogen und betrogen wurde schon immer, dachte ich. Bereits im Paradies ging‘s los. Und heute bestimmen Betrügereien und Unwahrheiten zunehmend unser Leben. ‚Saddam Hussein verfügt über Chemiewaffen‘. Das das eine falsche Aussage war, wussten viele. Zehntausende jedoch starben an dieser Lüge. ‚Die Rente ist sicher‘ wäre auch ein Beispiel. Die Mehrzahl von uns glaubt daran, obwohl ein Drittklässler ausrechnen könnte, dass es unmöglich ist, die Demografie zu besiegen. Irgendwie scheinen wir auf solche Mogelpackungen zu stehen, weil sie gut tun und ein positives Gefühl verbreiten. Im Fall des Irakkrieges schufen sie Arbeitsplätze in den USA, und uns Germanen beruhigt das Rentenspäßchen des Herrn Blüm immer noch.

Betrug ist Tagesgeschäft geworden, öffentlich wie privat. In jeder dritten Ehe ist mindestens ein Partner bereits einmal fremd gegangen und in unserer Steuererklärung schwindeln wir das sich die Balken biegen. Steuerberater nennen das, Kreativität bei der steuerlichen Gestaltung. Was schlussendlich raus kommt, ist oft schmerzhaft, wenn der Ehebrecher ertappt wird und die Beziehung in die Brüche geht oder der Steuergestalter Bußgeld blechen muss.

Lügen scheint sich demnach nicht zu lohnen und Aufrichtigkeit der richtige Weg zu sein. Aber tut nicht gerade das unter Umständen besonders weh? Jemanden mit den Worten ‚ich mag dich nicht, du bist hässlich‘ abzuwimmeln, mag die Wahrheit sein. Es schmerzt jedoch die abgewiesene Verehrerin mehr als ‚sorry, hab kein Interesse‘. Auch einen Vertrauensbruch zuzugeben um das eigene Gewissen zu beruhigen kann fatal sein. Dieser Akt der Ritterlichkeit endet oft mit dem endgültigen Verlust einer gemeinsamen Basis.

Zwanghafte Ehrlichkeit scheint also ebenfalls nicht die Lösung zu sein. Außerdem gibt es Unwahrheiten, die einfach gesagt werden müssen. Den Kindern ihren Weihnachtsmann vorzuenthalten oder ihn als Onkel Steffen vorzustellen, hielte ich zum Beispiel für eine unverzeihliche Wahrheit. Ähnlich verhält es sich mit dem berühmten Klapperstorch. Wie unverständlich wäre die Wirklichkeit im Vergleich zur Fabel? Sind Eltern, die ihre Kleinen veräppeln, etwa nicht wahrheitsliebend?

Was ist das nur für ein vertracktes Ding mit dem ehrlich sein. Soll ich nun? Sollte ich lieber nicht? Wo ist eine Unwahrheit angebracht, wo falsch? Diese Fragen purzelten mir immer wieder durch meine grauen Zellen.

Im Englischen gibt es den Ausdruck: ‚White Lie‘. Unter Selbigem würde man auch die vorgenannten ‚Kindermärchen‘ einordnen. Wörtlich bedeutet er ‚weiße Lüge‘ und steht für das deutsche Wort ‚Notlüge‘. Schwindeln aus Not klingt für mich allerdings äußerst beschissen. So wie ‚ich war das nicht‘, obwohl der Beweis auf dem Tisch liegt. Da lobe ich mir die Angelsachsen. Sie umschreiben mit ihrem Begriff die Sache weitaus besser. Eine weiße Lüge ist etwas das niemandem wehtut. Und positiv wirkt sie obendrein, wie die verdrehte Wahrheit über Onkel Steffen, der ein Weihnachtsmannkostüm trägt.

Ich denke der schlauste Plan ist, unsere Ehrlichkeit mit Bedacht ‚abzustufen‘. So können wir Schmerz verhindern und Menschen glücklich machen. Ab und an ist so was dann eben eine Lüge, allerdings eine weiße. Es scheint beides in Ordnung - die Wahrheit und ihr Gegenteil - manchmal zumindest. Ein wenig Aufmerksamkeit für den Nächsten vorausgesetzt und etwas Gefühl, sind wir in der Lage, die richtige Stufe zu finden.

Einen Punkt freilich gibt es an dem Schwindeln verboten ist, und zwar gänzlich. Die Eltern erzogen uns dazu, ehrlich zu sein. Das ist gut und stimmt mit den Werten der westlichen Gesellschaften überein. Was sie aber nur in den seltensten Fällen taten, weil sie es nicht besser wussten, ist uns die Wahrhaftigkeit zu uns selbst einzutrichtern. Sie muss erlernt werden, da niemand sie in die Krippe gelegt bekommt. Ohne sie jedoch hast du keine Chance auf dein Leben, sonder führst irgendeines, das akzeptierten Konventionen entspricht. Wahrscheinlich ist exakt das der wichtigste, gleichzeitig allerdings auch schwerste Teil der Ehrlichkeit. Zuerst einmal gilt es dabei nämlich, dich selbst zu verstehen.

Dies bedarf wiederum der Aufmerksamkeit, diesmal aber für dich, deine Gefühle und Empfindungen. Für viele ist das ungewohnt und daher unglaublich schwer. Insbesondere Männer haben hier Defizite, da es ihnen nie gelernt wurde. ‚Große Jungs weinen nicht‘, wieso sollte man dann nach einem Grund für die Tränen suchen. Achtsamkeit ist ein Lernprozess, der oft durch traumatische Erlebnisse beginnt. Vorher denkst du logisch und lediglich, ‚ich weiß ganz genau, was Sache ist in mir‘. In Wirklichkeit hast du nicht die Spur einer Ahnung.

Doch zurück zu der Frage meiner Leserin. Ich nehme an, ich kann ehrlich sein, weil ich mit meinem Geschreibsel niemandem wehtue. Ich probiere die Wahrheit zu sagen, wie ich sie sehe. Ob das immer objektiv ist, bezweifle ich, vor allem dort, wo es um mich geht. Daher werde ich nicht garantieren »verdammt« ehrlich zu sein. Letztlich spielt sowieso die Position des Lesers eine große Rolle.

Und die Öffentlichkeit des Internets wählte ich deshalb als Plattform, weil wir ansonsten nicht solch interessante Diskussionen führen würden. Es ist nämlich wunderbar zu erkennen, dass meine veröffentlichten Gedanken Feedback erzeugen. Mag das Geltungsbedürfnis, Exhibitionismus oder sonst wie genannt werden. Was ich schreibe, sind meine Wahrheiten. Es ist meine Meinung, meine‚abgestufte‘ Ehrlichkeit. Und darum sollten wir alle uns mit Bedacht und Gefühl ein klein wenig bemühen. Wichtig ist mir nur, ich will das Komma sein und kein Punkt. Es geht nämlich immer weiter, das Leben.

Danke fürs Zuhören - und danke für die interessante Frage ;-) (Smileys gehören hier eigentlich nicht her, aber irgendwie musste ich den Zwinkerer los werden)
Jürgen